Gastbeitrag: Falsche Anreize oder falsche Besitzverhältnisse?
Jul 25, 2021

Die Impfkampagne geht hierzulande ihren Gang und ermöglicht uns einen fast Corona freien Sommer. Ganz anders ist die Situation in vielen Ländern des globalen Südens. Wieder einmal wirkt die Pandemie als Spiegel und Verstärker ungerechter Macht- und Ressourcenverteilung. Dass unter diesen Umständen nur eine Aussetzung der Patente diskutiert wird, greift zu kurz. Angebracht wäre eine Debatte um die Enteignung von Pharmakonzernen, fordert Ramona in ihrem Gastbeitrag für communia.

Klimakatastrophe und Pandemie

Es ist Ende Juli. Es ist heiß und es ist nass. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind bei Überschwemmungen mehr als 170 Menschen gestorben. Die Klimakatastrophe ist in Deutschland angekommen. Dass gleichzeitig die Corona-Fallzahlen leicht ansteigen, ist daher nur Beiwerk auf den Nachrichtenportalen des Landes. Die Nebenrolle der Pandemie ist aber nicht nur auf die dramatischen Ereignisse hierzulande zurückzuführen, sondern auch darauf, dass der Fortgang der Impfkampagne ein Gefühl der Sicherheit verströmt. Fast jede Person, die sich impfen lassen möchte, muss nicht mehr lange auf ein Pflaster am Oberarm warten.

Damit befinden wir uns im Zentrum Europas in einer Ausnahmesituation. In vielen Ländern des globalen Südens können die Menschen erst gegen 2023 mit ausreichend Impfdosen rechnen. Ein zentraler Grund, warum nicht genügend Impfstoff zur Verfügung steht, ist, dass nur wenige Pharmakonzerne ein Recht auf die Produktion besitzen. Um den mittlerweile breit geforderten Lösungsansatz einfacher—oder leckerer—auszudrücken: Ist nicht genug Schwarzwälder Kirschtorte für alle da, dann sollten wir das Rezept kopieren und unter die Leute bringen. Indien und Südafrika haben bereits im Herbst 2020 bei der WTO die “Rezeptur” beantragt. Sie forderten zusammen mit über 100 anderen WTO-Mitgliedsstaaten die vorübergehende Aussetzung der Patente für Corona-Impfstoffe und der zugehörigen Technologien. Denn eins ist klar: je länger das Virus massenhaft kursiert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich Impfstoff-resistente Varianten entwickeln. Wir überwinden die Pandemie also nicht, indem wir nur die Menschen im globalen Norden impfen. Doch obwohl sich mittlerweile sogar die USA einer abgeschwächten Form der Patentaussetzung anschließt, blockiert die EU-Kommission – auch und vor allem unter dem Druck der deutschen Bundesregierung – weiterhin den durch Indien und Südafrika initiierten Antrag.

Menschenleben schützen statt Konzerne

Diese ablehnende Haltung wird insbesondere durch das Argument legitimiert, Pharmakonzerne hätten Milliarden in Forschung und Produktion der Impfstoffe gesteckt und würden mit einem Aussetzen der Patente um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden. Das wiederum verringere den Anreiz der Konzerne, zukünftig in die Produktion lebensnotwendiger Pharmazeutika zu investieren. Dieses Argument hält einer genaueren Betrachtung jedoch nicht stand: Die Grundlagenforschung zu den Corona-Impfstoffen hat über Jahrzehnte an staatlich finanzierten Universitäten stattgefunden. Außerdem erhielten die Konzerne für die Entwicklung der Medikamente Zuschüsse in Milliardenhöhe. Also: Danke für den Impf-Shot, liebe Steuerzahler*innen!

An dem aktuellen Fall zeigt sich in aller Klarheit, wie schlecht und ungerecht die Produktion und Verteilung lebensnotwendiger Medikamente gesellschaftlich organisiert ist. Sie verläuft innerhalb der kapitalistischen Logik, die immer eine Priorisierung von Profitmaximierung vor allen anderen (etwa ökologischen oder humanitären) Zielen einfordert und die keine Sättigung kennt. Denn nur in dem ich alle mir zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Gänze verwerte, werde ich zum größten Haifisch im Becken und so nicht von den anderen gefressen. Wenn die Organisation der Pharmaindustrie innerhalb dieser Logik Menschenleben kostet, dann sollten wir nicht nur die Aussetzung von Patenten diskutieren. Wir sollten darüber reden, wie wir die Medikamenentwicklung, -produktion und -verteilung der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen.

BioNTech vergesellschaften!

Dass die Aussetzung der Patente während einer globalen Pandemie zu einer salonfähigen Forderung wird und zugleich mit so bitterer Entschlossenheit bekämpft wird, verweist auf das Momentum, das dieser Debatte innewohnt. Das macht Hoffnung, dass in einer gerechteren Welt nicht nur Patente für Medikamente ausgesetzt werden können. Das Konzept des ausschließenden geistigen Eigentums ist eine zentrale Stütze für die Akkumulation von Geld und Macht durch Wenige. Diese Stütze können wir aber abmontieren. So würden wir extreme Machthierarchien ins Wanken bringen. Es gilt nun, das bestehende Momentum zu nutzen und nicht nur die Milliardengewinne von Pharmakonzernen auf Kosten von Menschenleben zu skandalisieren, sondern Fragen der Umverteilung und der fairen Besitzverhältnisse auf die politische Agenda zu setzen.

Im April 2020 hatte Angela Merkel noch gesagt, es handele sich „um ein globales öffentliches Gut, einen Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen”. Die Enteignung des in Deutschland ansässigen Unternehmens BioNTech wäre eine erste angebrachte Maßnahme, um diesen starken Worten Taten folgen zu lassen.

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