Interview: das zukünftige Öffentliche
Apr. 23, 2025

Dieses Interview mit Justus von communia und Vertreter*innen von Sorge ins Parkcenter erschien in der Zeitschrift ARCH+.

Justus Henze vom unabhängigen Thinktank communia sowie Sophie Dilg und Hannah Berner von der Initiative Sorge ins ParkCenter diskutieren im Gespräch mit Markus Krieger und Alex Nehmer darüber, wie wir Städte so gestalten können, dass alle gut versorgt sind und vom kollektiven Wohlstand profitieren.

Markus Krieger: Im Zentrum eurer beiden Initiativen stehen starke Leitbilder: Öffentlicher Luxus bei communia und die Sorgende Stadt bei Sorge ins ParkCenter. Justus, was versteht ihr unter Öffentlichem Luxus?
Justus Henze: Öffentlicher Luxus bedeutet, dass wir statt individuellen Reichtums einen allgemein geteilten Wohlstand schaffen, der unser Leben schöner, besser und freier macht. Gegenwärtig fließt ein Großteil des Ertrags, den Menschen durch ihre Arbeit erwirtschaften, in privat angeeigneten Reichtum, der ausschließt und noch dazu klimaschädlich ist. Nur ein Bruchteil dessen fließt in öffentliche Güter und Dienstleistungen, die unser Leben erst ermöglichen. Dieses Verhältnis wollten wir mit dem Konzept des Öffentlichen Luxus umkehren – den Exzess privaten Reichtums abbauen, um im Gegenzug das Öffentliche luxuriös auszustatten. Zum Beispiel kostenfreier öffentlicher Nahverkehr und öffentliche Schwimmbäder statt SUVs und Privatpools.
Für dieses Konzept hat der Autor George Monbiot den Begriff public luxury geprägt. Wir wollten den Begriff in die deutsche Debatte einführen und im positiven Sinn radikalisieren. Er mag zunächst kontraintuitiv wirken, denn die Linke ist nicht dafür bekannt, für Luxus zu plädieren. Doch wir glauben, dass öffentliche Dienstleistungen nicht mit Mangel und karger Funktionalität verbunden sein müssen. Wir können das Öffentliche für alle zugänglich machen und schön ausstatten. Warum nicht ein Schwimmbad, das nicht nur funktioniert und kostenlos ist, sondern auch eine ansprechende Architektur hat, sodass wir gerne hingehen? Kollektive Einrichtungen sollen einladende Orte sein, an denen wir als Gesellschaft gemeinsam ein wenig Luxus genießen können.
Damit formulieren wir auch eine hoffnungsvolle linke Antwort auf die Herausforderungen der Klimakrise. Denn auf einem endlichen Planeten stellt sich die Frage, wofür wir die begrenzten Ressourcen einsetzen. Ein luxuriös ausgestatteter öffentlicher Raum mit Dienstleistungen und Gütern, die allen zugänglich sind, bildet die Grundlage für private Reduktion. Zum Beispiel eine gut ausgebaute Bahn mit schönen Bahnhöfen, zuverlässigen Zügen und angenehmen Bordrestaurants ermöglicht es Menschen, die jeden Tag zur Arbeit fahren müssen, das Auto abzuschaffen.

Alex Nehmer: Steht die Idee der Sorgenden Stadt nicht eher für Grundversorgung und somit im Gegensatz zu der Forderung nach Öffentlichem Luxus?
Sorge ins ParkCenter: Genau an dem Spannungsverhältnis zwischen Grundversorgung und Öffentlichem Luxus setzt das Konzept der Sorgenden Stadt an. Gegenwärtig leben wir fast schon in einem „Antifürsorgesystem“. Sorgearbeit wird, ähnlich wie viele natürliche Ressourcen, als frei verfügbar betrachtet. Gleichzeitig führen Sparmaßnahmen zu immer mehr „Care-Lücken“ im Sozialsystem, die durch private Sorgearbeit gefüllt werden müssen. Sowohl private als auch professionelle Sorgearbeit stoßen heute schon bei Normalbetrieb an ihre Belastungsgrenzen. Die Vision der Sorgenden Stadt soll diese Care-Lücken schließen und die Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen ins Zentrum stellen. Es geht zunächst um die Befriedigung von Grundbedürfnissen etwa im Sinne des Zugangs zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung, zu gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln oder zu Unterstützungsangeboten bei der Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit. Es geht aber auch um die reale Utopie eines anderen Zusammenlebens, in dem alle gut versorgt sind und vom kollektiven Wohlstand profitieren – hier lässt sich die Brücke zum Öffentlichen Luxus schlagen.

Markus Krieger: Ihr habt die Initiative um das ParkCenter in Berlin-Treptow gegründet, ein teilweise leer stehendes und von Abriss bedrohtes Einkaufszentrum, das ihr in ein Sorgezentrum umwandeln wollt. Wie übersetzen sich eure Forderungen räumlich?
Sorge ins ParkCenter: Wir orientieren uns unter anderem am neuen Munizipalismus aus dem spanischsprachigen Raum, wo die Sorgende Stadt zum Planungsprinzip der Kommunalpolitik erhoben worden ist. Im Zentrum stehen die umfassende Institutionalisierung und kollektive Organisierung der Sorgearbeit. Dort ist es gelungen, bestehende Sorge-Strukturen zu stärken und aus der Perspektive der Sorgearbeit Geschlechter-, Klassen- und Herkunftsverhältnisse in der funktionsgetrennten Stadt grundsätzlich zu hinterfragen.
Ein gutes Beispiel sind die sogenannten supermanzanas oder superilles in Barcelona, die vielen als Strategie der Verkehrsreduzierung und Klimaanpassung bekannt sind, die aber auch das Konzept der Sorgenden Stadt umfassen: Als Care-Blöcke konzipiert, beherbergen sie Infrastrukturen für Kinderbetreuung, Pflege und Hitzeschutz. Ein starker Fokus liegt auf der Verbesserung der Zusammenarbeit von Initiativen, die vor Ort bereits Sorgearbeit verrichten, mit der zuständigen Verwaltung. Auf diese Weise konnten in Barcelona flächendeckend rund 30.000 Menschen über ihren Care-Block versorgt und viele kollektiv verwaltete Orte geschaffen werden. Ähnliche Beispiele existieren auch in Bogotá oder Santiago de Chile.
Solche Beispiele verdeutlichen, dass Sorgearbeit stark von der gebauten Umwelt abhängt. Fehlende oder mangelhafte Infrastrukturen erschweren oder verunmöglichen sie, während gute Infrastrukturen sie erleichtern. Wenn soziale Angebote und Infrastrukturen in der nahen Umgebung fehlen, müssen Personen, die Sorge tragen und Sorge empfangen, zusätzliche Arbeit leisten. Man spricht in dem Fall von infrastructural labor. Hier zeigen sich Macht- und Ungleichheitsverhältnisse besonders deutlich, weil vor allem marginalisierte Personengruppen aufgrund von Diskriminierung und Stigmatisierung häufig in schlecht ausgebauten Stadtteilen leben. Darauf reagiert die Sorgende Stadt, indem sie fordert, dass jedes Stadtviertel eine Einheit der Sorge sein sollte. Sie begreift den Nahraum als Handlungsraum und setzt auf die Strategie der kurzen Wege, was ebenfalls ein Stück Öffentlicher Luxus ist.
Justus Henze: Auch für den Öffentlichen Luxus gibt es zahlreiche historische Beispiele, etwa den sozialen Wohnungsbau im Roten Wien oder die Volkspark-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert, die den Zugang zu öffentlichen Erholungsorten für Arbeiter*innen einforderte. Aber das Konzept des Öffentlichen zu aktualisieren, heißt auch, es zu demokratisieren. Öffentlicher Luxus bedeutet heute zum Beispiel Freibäder ohne rassistische Einlasskontrollen, wie wir sie gerade in Berlin erleben, oder öffentlichen Raum ohne anlasslose Polizeikontrollen. Wir vertrauen dabei nicht auf einen paternalistischen und bürokratischen Staat, der öffentliche Angebote bereitstellt, sondern wollen diese Infrastrukturen selbst aneignen und kollektiv verwalten.
Sorge ins ParkCenter: Die Vergesellschaftung von Sorgearbeit ist keine neue Idee. Silvia Federici beschreibt, wie historische Versuche der kollektiven Organisation von reproduktiver Arbeit durch den Kapitalismus zurückgedrängt wurden. Gleichzeitig gab es immer gegenläufige Versuche, soziale Reproduktion anders zu organisieren. Zu den historischen Vorläufern der Sorgenden Stadt gehören zum Beispiel Charles Fouriers frühsozialistische Vision des Phalanstère, Ebenezer Howards Konzept der Gartenstadt, die Einküchenhäuser und die comedores populares oder andere Formen von Gemeinschaftsküchen. Diese Projekte zielten darauf ab, das Zusammenleben räumlich neu zu organisieren. Oft sind diese Versuche in Krisenzeiten entstanden, die bereits beschriebenen Munizipalismen etwa in Ländern, die in den letzten Jahrzehnten besonders stark von Austerität betroffen waren.
Eine Schwäche der gängigen Sozialplanung liegt darin, dass sie defizitäre Räume und „Probleme“ identifiziert und nach Lösungsstrategien für diese räumlichen Container sucht. Mit dieser Verräumlichung sozialer Herausforderungen geht eine „territoriale Stigmatisierung“ einher, eine symbolische Abwertung städtischer Räume, wie der Soziologe Loïc Wacquant beschreibt. In diesem Prozess können zum Beispiel die Deutungshoheit der Polizei und abwertende Mediendiskurse dazu führen, dass das Bild des „Problemviertels“ immer wieder reproduziert wird. Die Problemlagen eines Raumes werden dadurch verschärft und restriktive polizeiliche und stadtpolitische Interventionen legitimiert. Die Sorgende Stadt hingegen geht nicht von Problemräumen aus, sondern davon, dass wir alle gleichermaßen auf Sorge angewiesen sind. Würden diese Bedürfnisse überall durch öffentliche luxuriöse Infrastrukturen befriedigt und damit die Ungleichverteilung von Ressourcen und Wohlstand behoben, würde dies auch die Menschen wieder befähigen und ermächtigen, sich als Subjekte ihre Nachbarschaft und auch die Narrative darüber wieder anzueignen. Denn allzu oft sind diese Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozesse von einem Verlust an Identität, Handlungsmacht und Teilhabemöglichkeiten gekennzeichnet.

Alex Nehmer: Welche Ansätze der Aktivierung verfolgt ihr, um Menschen in Planungen miteinzubeziehen und ihre Handlungsmacht zu stärken? Wie erreicht ihr, dass sie sich die voraussetzungsreichen Konzepte, mit denen ihr arbeitet, auch zu eigen machen und mit ausgestalten können?
Sorge ins ParkCenter: Die Frage nach Aktivierungsstrategien und den für politische Arbeit vorhandenen Kapazitäten ist gerade im Bereich der Sorgearbeit zentral. Einerseits sind die meisten Menschen bereits durch ihren Alltag sehr eingespannt. In der privaten Sorgearbeit sind zudem klassische Formen des Arbeitskampfes wie Protest oder Arbeitsniederlegung ausgeschlossen. Andererseits ist durch die Unsichtbarmachung von Sorgearbeit vielen Menschen überhaupt nicht klar, dass die Sorgetätigkeiten, die sie jeden Tag verrichten, Arbeit sind und dass diese auch anders organisiert werden könnte.
Um den Menschen das bewusst zu machen, setzen wir ganz lokal an. Zentraler Ausgangspunkt ist für uns die Bedürfnisermittlung. Neben Sorge-Mappings und anderen Formen kollektiver Wissensproduktion haben wir mehr als hundert Haustürgespräche im Kiez geführt und Briefe an die gesamte Nachbarschaft verschickt, um Bedürfnisse abzufragen – eine Strategie, die wir uns vom Berliner Gesundheitskollektiv abgeschaut haben. Die Herausforderung besteht darin, den Sprung von dem sehr intimen Thema der Sorgearbeit hin zu einem utopischen Denken über deren zukünftige Gestaltung zu machen. Mit den Menschen darüber zu sprechen, ist ein erster Schritt, Sorgearbeit zu entprivatisieren und in die Öffentlichkeit zu tragen.
Unsere Arbeit vor Ort ist auch eine Form von Sorgearbeit, die Praktiken des späteren Sorgezentrums vorwegnimmt. Gleichzeitig ist sie eine Form der Raumproduktion, ein Prozess, der neue Räume schafft. Die Sorgezentren sind dabei eine Chiffre, die alle von einem guten Leben für alle träumen lässt. Mit dem ParkCenter haben wir zudem einen konkreten Ort, an dem diese Träume in konkrete Forderungen übersetzt werden können. Die Aktivierung erfolgt vor allem über diese greifbare Handlungsebene.
Justus Henze: Der Schwierigkeitsgrad der Aktivierung hängt stark vom Thema ab. Bei Themen wie etwa Bahninfrastruktur, die in der Vergangenheit einmal öffentlich war, ist es relativ einfach, Menschen mitzunehmen und ihre Vorstellungskraft für eine andere Welt und eine andere Organisation zu aktivieren. Auch beim Thema Recht auf Wohnen können wir auf viel Alltagserfahrung unserer potenziellen Mitstreiter*innen zurückgreifen. Ich würde also davor warnen, so zu tun, als habe die Masse der Menschen die aktuellen Probleme nicht verstanden. Die erfolgreiche Kampagne des Volksentscheids Deutsche Wohnen & Co enteignen in Berlin zeigt, wie viel gemeinsames Verständnis bereits existiert und wie schnell daraus Mehrheiten für weitreichende Veränderungen geschaffen werden können. Wenn es für viele spürbar etwas zu gewinnen gibt, dann werden auch bisher nicht politisch organisierte Nachbar*innen schnell zu Mitstreiter*innen. Mit unserer Programmatik Öffentlicher Luxus möchten wir verdeutlichen, dass es selbst in schwierigen Zeiten viel zu gewinnen gibt.
Wie ihr richtig festgestellt habt, sind Sorgearbeit und ihre ungleiche Verteilung eng mit Geschlechterrollen sowie rassifizierten Ausgrenzungs- und Ausbeutungsmustern im Kapitalismus verbunden. Die Konfliktlinien sind hier jedoch weniger deutlich als bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, wo der Gegner in Gestalt der Eigentümer klar identifizierbar ist. Es erfordert daher viel Vorarbeit, um den utopischen Raum zu öffnen, in dem man sich vorstellen kann, wie Sorgearbeit räumlich, infrastrukturell und im Alltag anders organisiert werden kann.
Sorge ins ParkCenter: Sorgearbeit ist einerseits schwer fassbar, andererseits gibt es auch hier ganz intuitive Vorstellungen davon, wie wir uns umeinander kümmern sollen. Was oft fehlt, ist der Raum dafür – nicht nur der physische Raum, sondern auch Zeit und Kapazitäten, füreinander Sorge zu tragen.
Justus Henze: Das ist entscheidend für die Demokratisierung unserer politischen Strategien. Es reicht nicht, nur an das politische Subjekt zu appellieren und zu sagen: „Alle müssten sich doch einbringen wollen.“ Wir müssen auch die materiellen Alltagsrealitäten anerkennen, die dem im Weg stehen. Oft ist das ganz profan: Menschen, die 40 Stunden arbeiten, weite Arbeitswege haben und danach noch ihre Kinder von der Kita abholen müssen, haben abends keine Zeit für Plena. Daraus ergeben sich praktische Fragen der Kampagnenorganisation: Wir brauchen niedrigschwellige Mitmachangebote, etwa für eine Stunde Flyer für eine Demo zu verteilen. Dasselbe gilt für die Verwaltung vergesellschafteter Ressourcen und Räume. Im Konzept der Anstalt öffentlichen Rechts (AÖR), das wir für Deutsche Wohnen & Co enteignen als Träger für den vergesellschafteten Wohnraum entwickelt haben, denken wir beispielsweise über ein Sitzungsgeld oder eine entsprechende Mietminderung nach. Es ließen sich sicher noch bessere Modelle finden, aber das Ziel ist klar: Wir wollen verhindern, dass am Ende nur verrentete Akademiker*innen und Studierende mit hohem Idealismus und viel Zeit diese demokratischen Strukturen prägen.

Markus Krieger: In diesem Zusammenhang möchte ich an Otto Neuraths Kritik am Konzept des Einküchenhauses erinnern. Er bemängelte, dass es „hauptsächlich von bürgerlichen Intellektuellen mit gutem Einkommen benützt“ werde und fragte, wie in der Arbeiterbewegung „Solidarität entstehen [kann], die zum technisch vollkommenen Zentralismus führt?“ Welche Lehren zieht ihr aus dieser historischen Kritik am Einküchenhaus und der möglichen Vereinnahmung öffentlicher Infrastrukturen durch Privilegierte für eure politische Arbeit?
Justus Henze: Ich bin zwar kein Experte für die Geschichte des Einküchenhauses, aber es gab sicher handfeste materielle und historische Gründe, warum proletarische Frauen die Zentralisierung der Küchenarbeit so vehement ablehnten. Vielleicht passte dieses Modell nicht in den Arbeitsalltag werktätiger Frauen oder es führte de facto nicht dazu, dass sie weniger Küchenarbeit verrichten mussten. Oder sie hatten schlicht keine Lust, von Technokraten vorgefertigte Lösungen für ihre sozialen Probleme vorgesetzt zu bekommen. Obwohl ich das nicht abschließend bewerten kann, zeigt das Beispiel ganz gut, dass man die infrastrukturelle und gesellschaftliche Gestaltung des Öffentlichen nicht für, sondern mit den Subjekten planen muss. Auch heute müssen wir fragen: Wer wohnt in den Wohnungen, wer nutzt das Einkaufscenter, wer lebt im Kiez und bringt sich dort ein? Mit diesen Menschen in ihren materiellen und sozialen Lebensrealitäten müssen wir zusammenarbeiten und gemeinsam das zukünftige Öffentliche gestalten.
Sorge ins ParkCenter: Niemand von uns kann oder will exakt vorschreiben, wie ein Sorgezentrum auszusehen hat. Das ist immer an die lokalen Bedingungen und Bedürfnisse gebunden und kann nur im Prozess gemeinsam mit den Nutzer*innen entstehen. In Bezug auf die Sorgearbeit könnte Neuraths Kritik darauf hinweisen, dass Vergesellschaftung nicht nur als technische Lösung – wie etwa gemeinsame Küchen oder zentralisierte Pflegedienste – verstanden werden darf. Auch die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen müssen berücksichtigt werden. Solidarität entsteht nicht einfach durch eine räumliche Reorganisation. Vielmehr entwickeln sich Sorgeinfrastrukturen durch gemeinsame, solidarische Ziele und kollektive Aktivitäten. Um dafür Raum zu schaffen, braucht es eine grundsätzliche Neuausrichtung der Ökonomie, die Care-Arbeit als Basis des wirtschaftlichen Handelns und als Gefüge materieller und immaterieller Beziehungen begreift. Daher sind Entprivatisierung und Demokratisierung für uns zentrale Werkzeuge, um die Vergesellschaftung der Sorgearbeit voranzutreiben.

Alex Nehmer: In dieser ARCH+ Ausgabe geht es auch um die Schaffung und Stärkung demokratischer Räume. Am Beispiel des bisher nicht umgesetzten Berliner Volksentscheids Deutsche Wohnen & Co enteignen zeigt sich, dass eine der größten Hürden für demokratische Instrumente darin liegt, dass die wirtschaftliche Sphäre weitgehend unangetastet bleibt. Ihr habt die Notwendigkeit angesprochen, ökonomische Verhältnisse zu demokratisieren. Was bedeutet das konkret für euch?
Justus Henze: Wir leben in einer Demokratie, die am Werkstor endet. Während uns zugetraut wird, den Bundestag zu wählen, gelten in der Unternehmenswelt grundsätzliche demokratische Prinzipien nicht. Das wird besonders in den aktuellen Krisen deutlich, allen voran der Klimakrise. Um diese zu bewältigen, ist ein umfassender Umbau vieler materieller Infrastrukturen und der Produktion erforderlich. Das kann nur gelingen, wenn diejenigen, die an den Maschinen arbeiten und die am Ende die Produkte nutzen, einbezogen werden. Dann bedeutet der sozial-ökologische Umbau nicht nur Verzicht, sondern auch einen Zugewinn – an Lebensqualität, Teilhabe und Mitgestaltung.
Am Beispiel von Wohnraum wird das besonders klar: Derzeit besitzen die Konzerne, die mithilfe des Volksentscheids vergesellschaftet werden sollen, über 15 Prozent der Wohnungen in Berlin. Diese Eigentümer*innen haben damit enorme Macht, wie sich dieser Wohnraum und die Stadt entwickeln. In Zeiten der Klimakrise und der Wohnraumknappheit sollten jedoch die Mieter*innen und Stadtbewohner*innen zentrale Akteur*innen des Wandels sein, da sie über das Wissen verfügen, wie ihre Wohnungen und Viertel umgebaut werden sollten. Deswegen müssen sie in wirtschaftliche Entscheidungen über die Wohnraumversorgung einbezogen werden. Dasselbe ließe sich auch auf die Gesundheitsversorgung oder die Automobilindustrie übertragen.

Alex Nehmer: Wie kommt ihr dorthin, wenn die derzeitigen demokratischen Instrumente solche Grenzen aufweisen?
Justus Henze: Das ist eine große, historisch viel diskutierte Frage. Es ist wichtig, immer wieder zu betonen, dass die wichtigste Grundlage unserer Demokratie, unsere Verfassung, bereits einige Wege aufzeigt. Artikel 15 des Grundgesetzes erlaubt es, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeingut zu überführen. Der Artikel sorgt zudem dafür, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral ist und somit das Wirtschaftssystem offen bleibt. Viele Schritte hin zu einer bedürfnis- statt profitorientierten Wirtschaftsweise und einer weitreichenden Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen sind mit dem Grundgesetz denkbar.
Sorge ins ParkCenter: Im Bereich der Sorgearbeit ist es etwas komplizierter. Einerseits müssen Konzerne, in denen Gesundheitsversorgung, Betreuung und Pflege institutionalisiert sind, entprivatisiert und demokratisiert werden. Andererseits gibt es aber auch die private, individualisierte, unsichtbare und unbezahlte Sorgearbeit. Bevor diese demokratisiert werden kann, muss sie sichtbar gemacht werden. Deshalb sprechen wir von einer doppelten Entprivatisierung und doppelten Demokratisierung, die in der Sorgearbeit notwendig ist. Im Kern der Sorgenden Stadt steht, dass Menschen in die Entscheidungen einbezogen werden müssen, die sie direkt betreffen. Krankenpfleger*innen sollen über die Abläufe in ihren Krankenhäusern mitbestimmen, genauso wie Erntehelfer*innen über die landwirtschaftliche Produktion mitentscheiden sollten – das wäre Teil einer ökologischen Dimension von Sorge. Für diese unterschiedlichen Räume oder kollektiven Strukturen müssen konkrete Modelle der Mitbestimmung (weiter)entwickelt werden.
Neben der Mitbestimmung geht es auch um eine gerechte Verteilung von Sorgeverantwortung, wie es Joan Tronto, eine der Gründermütter der Care-Ethik, betont. Daseinsfürsorge muss allen zugänglich sein, und die Verantwortung dafür darf nicht auf einige wenige abgeschoben werden. Niemand sollte sich aus dieser Sorgeverantwortung freikaufen können, wie es momentan privilegierten Personengruppen möglich ist. Das zu verhindern, wäre Teil einer sorgenden, statt marktorientierten Demokratie.

Markus Krieger: Wie steht es konkret um die Planung für das ParkCenter? Und welche Interventionsmöglichkeiten seht ihr?
Sorge ins ParkCenter: Die Eigentümer haben eine Bauvoranfrage für einen Teilabriss und den Neubau von Bürotürmen gestellt, die vom Bezirk Treptow-Köpenick genehmigt wurde. Allerdings haben die Eigentümer signalisiert, dass diese Pläne kurzfristig nicht umgesetzt werden sollen, vermutlich aufgrund der derzeitigen Unsicherheiten auf dem Immobilienmarkt und der gestiegenen Baukosten. Das eröffnet uns ein Zeitfenster, um unsere Forderungen, zumindest den Nicht-Abriss betreffend, deutlicher zu kommunizieren und auf den Leerstand im ParkCenter aufmerksam zu machen – ein Problem, das viele Einkaufszentren bundesweit betrifft. Die Leerstandsquote bei Shoppingcentern liegt im Schnitt bei über 11 Prozent. Uns ist aber klar, dass Immobilieninvestor*innen nicht am Betrieb ihrer Einkaufscenter verdienen, sondern am Abriss und Neubau. Insofern ist der Ort trotz des Aufschubs nicht langfristig gesichert. Unsere Forderung nach Erhalt des Gebäudes muss also auch politisch und planerisch verankert werden.

Alex Nehmer: Die Initiative Sorge ins ParkCenter ist auch Mitglied im Netzwerk Urbane Praxis. Wie verortet ihr eure Arbeit in diesem Netzwerk?
Sorge ins ParkCenter: Für uns ist es wichtig, mit unseren Forderungen auch eine sozialräumliche Idee zu liefern, um das utopische Denken konkreter zu machen. Gleichzeitig offenbart das leere Einkaufszentrum die Absurdität des bestehenden Systems. Wir diskutieren immer wieder, ob wir rein konzeptuell arbeiten oder im Sinne eines Reallabors konkrete räumliche Angebote entwickeln sollten. Einige fordern, dass wir vor Ort mindestens eine regelmäßige Küfa (Küche für alle) anbieten müssten. Momentan fehlt uns dafür die Kapazität, aber wir sehen in beiden Ansätzen Potenzial: Einerseits brauchen wir konzeptionelle Leitplanken und politische Forderungen – denn der Markt regelt das nicht –, andererseits brauchen wir Räume zum Experimentieren. Veränderungen im Raum können transformative Kräfte für neue Beziehungsweisen freisetzen, wie es die Geografin und Sozialwissenschaftlerin Doreen Massey beschreibt. Urbane Praxis verbindet diese Felder und Disziplinen, was sich auch in unserer Arbeitsstruktur widerspiegelt. Wir haben sowohl Praktiker*innen als auch Strateg*innen und viele dazwischen.
Justus Henze: Der Fokus von communia liegt auf politischer Hintergrundarbeit, weniger einer eigenen Praxis. Dennoch hängen für mich Öffentlicher Luxus und Praktiken der Raumaneignung zusammen. Solche Praktiken stoßen gegenwärtig an materielle Grenzen. Lebendige Kieze brauchen stabile Netzwerke und Beziehungen, die aber auf zwei Dingen beruhen: öffentlichen Räumen der Begegnung und sozialer Sicherheit. Urbane Gemeinschaften geraten unter Druck, wenn viele nicht wissen, ob sie sich die Miete nächstes Jahr noch leisten können, wenn kleine Gewerbebetriebe und Nachbarschaftstreffs verdrängt werden oder die öffentlichen Spielplätze verfallen. Das Ziel des Öffentlichen Luxus, öffentliche Räume wiederherzustellen, massiv auszubauen und den Zugang zu sichern, könnte die materielle Grundlage für eine gelingende und beständige urbane Kultur und Aneignung städtischer Räume schaffen.

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