Dieser Artikel von Carlo Kolletzki bildet den zweiten Teil zum Gastbeitrag auf diesem Blog.
International geht der Trend zu mehr Kontrolle über strategische Industrien
Man könnte fast sagen, dass die Volksrepublik China, mit ihrer besonderen Form der staatlichen Kontrolle der Wirtschaft international einen Trend gesetzt hat. US-Präsident Donald Trump setzte im Zuge der Übernahme des größten Stahlherstellers U.S. Steel durch einen der größten internationalen Konkurrenten Nippon Steel aus Japan ein ungewöhnliches Maß an staatlicher Kontrolle durch. Laut New York Times ein “arrangement that could change the nature of foreign investment in the United States”. Ein sogenannter “Golden Share”, ein vergoldeter Anteil des Unternehmens verbleibt nach der Übernahme beim Weißen Haus und räumt ihm Vetorechte ein, bei eigentlich unternehmerischen Entscheidungen, wie der Verlagerung von Fabriken und Jobs ins Ausland, der Betriebsdauer von Produktionsanlagen oder der Zusammensetzung von Lieferketten von Rohmaterialien. Begründet wurde der massive Eingriff in das freie Unternehmertum mit „national and economic security“.
Mit derselben Argumentation setzte letztlich auch die Labour-Regierung im Vereinigten Königreich die staatliche Kontrolle über den letzten noch aktiven Hochofen in Scunthorpe per Notgesetz durch, worüber im Teil 1 der Gastbeitragsreihe ausführlich berichtet wurde. Auch hier wurde nicht einfach verstaatlicht, das Eigentum an British Steel, dem Betreiber des Hochofens in Scunthorpe, verbleibt vorerst beim chinesischen Unternehmen Jingye. Doch die britische Regierung erhält durch das Notfallgesetz weitreichende Möglichkeiten der Unternehmenssteuerung: faktisch wurde das alte Management mit Polizeigewalt durch ein von Regierung entsandtes ersetzt.
In der Europäischen Union mahlen die Mühlen bekanntlich etwas langsamer. Trotz Beteuerungen zur Aufrechterhaltung der Marktwirtschaft werden zur Rettung der Industrie zahlreiche Steel-, Chemicals– oder Automotive-„Industry-Action-Plans“ vorgestellt und unter dem Eindruck einer veränderten geopolitischen Lage öffnet die EU sich zunehmend auch für stärker interventionistische Industriepolitik. Relativ geräuschlos durchlief Ende letzten Jahres auch das Binnenmarkt-Notfall- und Resilienzgesetz die EU-Gesetzgebungsverfahren, das im Krisenfall (Pandemie, Katastrophe, Krieg) weitreichende Eingriffe in die Lieferketten, Beschaffung und Produktion (inklusive Streikverbot) von „krisenrelevanten Waren und Dienstleistungen“ vorsieht.
Staatliche Kontrolle ist nicht gleich Vergesellschaftung
Dieser global zu beobachtende Trend einer Vermischung von ökonomischen mit Sicherheits-Interessen zeigt, dass eine Trennung in eine ökonomische Sphäre einerseits und eine politische andererseits – wie lange angenommen wurde – nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Industrieproduktion, KI- und Serverkapazitäten sowie der Zugang zu Handelswegen und Rohstoffen werden nicht mehr als Bedingungen zur Steigerung des Wohlstandes begriffen, sondern zu knallharten strategisch-militärischen Interessen erklärt. Weder Transformation zu klimafreundlicher Produktion noch eine Beteiligung der Beschäftigten am erarbeiteten Wohlstand sind das Ziel verstärkter staatlicher Kontrolle über die Wirtschaft. Das gilt es zu beachten, bevor staatliche Eingriffe in die Wirtschaft als Selbstzweck für gut erklärt werden.
Und genau so darf auch staatliche Kontrolle oder Verstaatlichung nicht mit Vergesellschaftung verwechselt werden. Vergesellschaftung geht weit über das, was weitläufig als Enteignung verstanden wird, hinaus. Nicht nur die Übertragung des Eigentums von Land und Produktionsmitteln, sei es gegen eine Entschädigung oder entschädigungsfrei, von einem Privateigentümer auf eine andere Entität ist gemeint. Sondern vielmehr braucht Vergesellschaftung auch eine weitreichende Demokratisierung über das „Was“ produziert und „Wie“ mit diesem Eigentum umgegangen wird. Der dritte Pfeiler, damit wir von Vergesellschaftung sprechen können, ist die Gemeinwohlorientierung. Nicht mehr im Interesse der Eigentümer oder Shareholder soll gewirtschaftet werden, sondern im Sinne des Gemeinwohls bzw. der Bedürfnis- oder Gebrauchswertorientierung. Aber was bedeutet das jetzt für die Stahlindustrie? Ist eine Vergesellschaftung der Stahlindustrie in Deutschland im 21. Jahrhundert denkbar?
Grundrisse einer vergesellschafteten Stahlindustrie
Die Eigentumsfrage stellen? Leichtgemacht.
Zunächst ist festzuhalten, dass die Übertragung des Eigentums von einem privaten Eigentümer in öffentliches oder staatliches Eigentum das geringste Hindernis für eine vergesellschaftete Stahlindustrie darstellt. Aufgrund ihrer Struktur, die auf große integrierte Anlagen und Skaleneffekte angewiesen ist, tendiert die Stahlindustrie insgesamt zur Überproduktion und ist daher strukturell krisenhaft. In ihrer bald zweihundertjährigen Geschichte ist es immer wieder zu Krisen und damit zu Pleiten, Fusionen, Übernahmen und wechselnden Eigentumsformen gekommen. Durch ihre besondere Stellung am Anfang fast jeder industriellen Produktionskette und damit auch industrieller Entwicklung per se, sowie die Bedeutung der Stahlindustrie für den Aufbau militärischer Kapazitäten, war der Aufbau, Schutz und Erhalt immer auch schon im nationalstaatlichen bzw. überstaatlichen Interesse. Nicht durch Zufall ist die Vorgängerorganisation der Europäischen Union, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), 1951 von den westeuropäischen Staaten zum Schutz der Montanindustrien gegründet worden. Überall auf der Welt und auch in Deutschland finden sich unterschiedliche Eigentumsformen von Stahlkonzernen: Familienunternehmen (Arcelor Mittal), rein privates Mischeigentum (Thyssenkrupp), Mischeigentum mit Landesanteilen (Salzgitter AG) oder auch Stiftungsmodelle (Stahl Holding Saar). Verstaatlichungen und Rettungsmodelle mit Fusionen und Mischeigentumsformen kommen regelmäßig vor und werden in jeder Krise wieder lautstark von Gewerkschaften und Linken, aber auch aus der Mitte und von rechts gefordert. Das allein zeigt, dass eine Verstaatlichung allein noch kein progressives Projekt macht.
Von der Montanmitbestimmung zur Wirtschaftsdemokratie?
Wie sieht es also aus mit der Demokratisierung in der Stahlindustrie? Historisch gewachsen ist die Stahlindustrie immer noch eine Hochburg der Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindung sowie der betrieblichen Mitbestimmung. Mit der paritätischen Mitbestimmung durch das Gesetz der Montanmitbestimmung von 1951, das für die Stahlindustrie bis heute gilt, ist den Beschäftigten immer eine Parität gegenüber dem Management in Aufsichtsräten und Vorständen zugesprochen. Eine kampferprobte Gewerkschaftsmitgliedschaft, alte Tradition und hohe Identifikation der um die großen Stahlwerke liegenden Regionen und Kommunen, haben eine große Bedeutung für die politische Debatte um die Zukunft der Stahlstandorte. So haben Betriebsräte und Gewerkschaften auch einen großen Anteil an den Transformationsvorhaben und den dafür von der Politik ausgestellten Schecks. Die gelebte Sozialpartnerschaft bekommt in der aktuellen Krise jedoch Risse, wie zuletzt die Eskalation und Rücktritte aus Vorstand und Aufsichtsräten bei Thyssenkrupp um die geplanten Kapazitäts- und Stellenstreichungen von 40 Prozent zeigen. Auch endet die Montanmitbestimmung an der Bundesgrenze bei internationalen Konzernen wie Arcelor Mittal, die sehr geübt darin sind, Standorte und Regierungen gegeneinander auszuspielen. Zudem machen der allgemeine Abschwung der organisierten Industriearbeiterschaften, die breite Angst vor der Deindustrialisierung und die Anti-Gewerkschaftshaltung rechter Kräfte im Betrieb der IG Metall zunehmend Mitglieder streitig. Die Sonderstellung der Mitbestimmung, die sie in der Stahlindustrie immer noch hat, ist also unter Beschuss und Belegschaftsbeteiligung alleine macht auch noch keine Wirtschaftsdemokratie aus. Für echte Beteiligung auch über Investitionsentscheidungen sowie das was und wie produziert wird, braucht es natürlich zusätzlich neue Beteiligungsformate und die Einbeziehung weiterer Gruppen und Stakeholder. Aber in der Stahlindustrie ist die Ausgangslage für die Erweiterung demokratischer Prozesse durch eine weitgehend organisierte Belegschaft und die große Identifikation und das Interesse der umliegenden Kommunen und Gemeinden an ihren Stahlbetrieben weitaus besser, als in anderen Industriebranchen.
Ohne Profite in die Gemeinwirtschaft?
Der größte Knackpunkt, aber auch die größte Chance für die Vergesellschaftung der Stahlindustrie, liegt in der Gemeinwohlorientierung. Steht sie den Profitinteressen der privaten Eigentümer auch diametral entgegen, so fällt aber den meisten Stahlkonzernen genau das in letzter Zeit schwer: Profite machen. Die Profitraten sinken schon seit Jahren und die meisten deutschen und europäischen Stahlhersteller kämpfen mit Verlusten. Nicht ohne Grund ruft es regelmäßig aus der Branche, von Gewerkschaften oder Regionalpolitik nach einem Stahlgipfel und Rettungspaketen. Schon seit Jahren steht es für die Branche „Fünf vor Zwölf“. Globale Überkapazitäten und fehlende preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutscher und europäischer Unternehmen führen zur hiesigen Unterproduktion. Nicht ausgelastete Werke fahren Verluste ein und eine weitere Schrumpfung von Produktion und Beschäftigung unter Profitzwang scheint nicht abzuwenden.
Wäre es da nicht attraktiv, den Profitzwang durch private Eigentümer und Shareholder aufzuheben? Produktion nur noch als Grundlage für die nachgelagerten Industrien und Wirtschaftszweige. Schließlich ist Stahl unabdingbar für Gebäude, Brücken, Schienen- und Stromnetze, Windräder und Solarpanele, Fahrzeuge und Haushaltsgeräte. Wir brauchen Stahl als industriellen Grundstoff, dann sollten wir ihn auch selbst produzieren – mindestens aus Resilienzgründen. Hilft es da nicht, den Profitdruck und die Erwartungen der Aktionäre auf Dividenden und die Abschöpfung des Mehrwertes eine Absage zu erteilen? Natürlich. Erst recht, wenn man bedenkt, dass private Eigentümer von Stahlkonzernen am Profitzwang hängen, obwohl sie wissen, dass die Stahlindustrie im Ausland stark und dauer-subventioniert wird und fast überall unter gewisser staatlicher Kontrolle oder zumindest Schutz steht. Die Sicherung einer für Privateigentümer profitablen Stahlproduktion kann dann ebenfalls nur über staatliche Gegensubventionen laufen. Wenn staatliche Subventionen als Dividenden in die Taschen von Aktionären gehen, dann muss man von einer Tributökonomie sprechen, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Angesichts der für die Entwicklung und Industrialisierung so bedeutsamen Branche, die zugleich aber strukturell defizitär ist, scheint eine Ersetzung der Profitlogik durch eine Gemeinwohlorientierung geradezu logisch.
Die Frage ist, ob es ausreicht, den Profitzwang aufzuheben, solange internationale Konkurrenz nach wie vor besteht. Das „Globalisierungsdilemma“ wäre durch eine Vergesellschaftung nicht aufgehoben. Würde woanders immer noch billiger produziert, fände auch eine klimaneutrale Produktion mit guten Tarifverträgen und üppigen Betriebsrenten wenig Abnehmer für ihre Produkte. „Die ökonomische Wahrheit der eigenen Überflüssigkeit“, die Hoffrogge bitter, aber treffend den Stahlern der 1980er in der Hochphase der Vergesellschaftungsbewegung in der Stahlindustrie attestierte, gilt bis heute fort.
Wir brauchen Stahl, aber nicht zu viel
Insgesamt gibt es weltweit gesehen viel zu viel Stahl. Die derzeitigen globalen Produktionskapazitäten übertreffen die Nachfrage schon um 600 Millionen Tonnen, das heißt 30 Prozent des produzierten Stahls wird nicht verkauft und findet keine Verwendung. Eine enorme Verschwendung von Ressourcen und des Klimabudgets. Viel sinnvoller wäre es, regional für den Bedarf zu produzieren, anstatt nur für die zahlungskräftige Nachfrage und unter knallharter Unterbietung der Konkurrenz durch Erhöhung der Skalenerträge und auf Kosten von Mensch und Klima. Nachhaltiger wäre der Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten (»local for local«). Solche robusteren Lieferketten sind auch resilienter gegenüber Preisschwankungen, Geopolitik und vom Klimawandel ausgelöste Naturkatastrophen.
Nicht nur die Verluste vergesellschaften
Das Stahl-Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik von 1981 empfiehlt: auch die profitablen Teile der Stahlindustrie zu vergesellschaften und nicht nur die verlustreichen „zu sozialisieren“. Was sich in den 1980ern noch auf Edelstähle und Anlagenbau bezog, lässt sich heute auch auf Generatoren, Automobilteile und Rüstung übertragen. Um den Umstrukturierungsspielraum und die Unterstützung der Belegschafts-Akteure zu gewährleisten, darf sich ein Vergesellschaftungsprojekt nie ausschließlich auf die verlustreichen Sparten und Teilbetriebe konzentrieren, sondern muss auch profitable benachbarte Wertschöpfungsprozesse im Blick haben.
Die Bedeutung, die die Stahlindustrie auch für nachgelagerte Produktionszweige hat, die eine Linke lieber schrumpfend als wachsend sehen würde, wie die Auto- und die Rüstungsindustrie, muss sie dabei berücksichtigen. Inwiefern Autos oder Rüstung in einer demokratisierten, gemeinwohlorientierten Wirtschaft im selben Umfang noch gebraucht werden, gilt es demokratisch auszuhandeln. Das sind wir bisher nicht gewohnt und es wird herausfordernd. Aber das ist ja gerade das Schöne an Demokratisierung: Wie unsere Wirtschaft von morgen aussieht ist zwar noch nicht entschieden und noch ist nicht alles gut oder einfach – aber zumindest können wir unsere Wirtschaft, unsere Zukunft, gemeinsam gestalten.
Ob sich die gesellschaftliche Linke im 21. Jahrhundert an ein solch anspruchsvolles Projekt wie die Vergesellschaftung der Stahlindustrie wagt, das auf vielen Kämpfen und Erfahrungen vorangegangener Generationen aufbaut, ist ungewiss. Spannend wäre eine Aktualisierung der Debatte über Planung von Transformation und Gebrauchswertorientierung in der Schwerindustrie-Produktion allemal.