Diese zweiteilige Reihe basiert auf Auszügen der Masterarbeit von communia’s Max Wilken von 2020. Aktuell vertieft Max diese Forschung im Rahmen seiner Doktorarbeit. Der erste Beitrag ist eine Fallstudie zur Bahn, im zweiten wird der Umbau der Automobilindustrie thematisiert. Die Leitfrage: wie kann die Demokratisierung des Verkehrssektors als Transformationsstrategie für eine sozial gerechte Verkehrswende dienen?
Die Bahnreform als Ausgangspunkt der Vermarktlichung des Schienenverkehrs
Die gegenwärtige Struktur der Deutschen Bahn hat ihren Ursprung in der Bahnreform von 1994. Mit dem Ziel der Privatisierung wurden die Staatsbahnen der DDR und BRD in der Aktiengesellschaft Deutsche Bahn AG zusammengeführt. Zudem wurde der Bahnbetrieb in unterschiedliche Geschäftsbereiche aufgeteilt, – einerseits um Netz und Betrieb zu trennen, andererseits um einen schrittweisen Verkauf einzelner Teile des Unternehmens zu ermöglichen. Als Aktiengesellschaft ist die Deutsche Bahn AG dem Gewinn verpflichtet und hat ihre Unternehmenspolitik darüber hinaus jahrelang am Kapitalmarkt ausgerichtet, um einen gewinnträchtigen Börsengang zu ermöglichen. Die Problematiken der Kapitalgesellschaft – von Kurzfristorientierung über Verschuldung zu unproduktiver Finanzinvestition – sind damit auch auf den formell in Staatshand befindlichen Konzern übergesprungen.
Die Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft war Teil der neoliberalen Wende in der Verkehrspolitik. Erklärtes Ziel der Bahnreform war es, die Qualität des Schienenverkehrs zu erhöhen und die Staatsfinanzen von den Lasten der ‚Behördenbahn‘ zu befreien. Es wurde dabei gemeinhin angenommen, dass der Bahnverkehr effizienter von privaten Betreibern bereitgestellt werden könne (Engartner, 2008). Die Spezifika des Schienenverkehrs laufen jedoch einer Vermarktlichung deutlich entgegen und die Erfahrungen mit der Privatisierung des Bahnverkehrs sind fast durchgängig katastrophal. Zuletzt musste Großbritannien die Privatisierung des Schienennetzes unter hohen Kosten zurücknehmen, da der Privatbetrieb zahlreiche Probleme wie die Vernachlässigung der Infrastruktur und die Erhöhung der Ticketpreise ausgelöst hatte (Bowman, 2015). Zu den Besonderheiten des Schienenverkehrs, die gegen eine am Wettbewerb orientierte Organisierung sprechen, gehören die Existenz natürlicher Monopole, langfristige Investitionsbedarfe und der Netzcharakter des Schienenverkehrs.
Die enorm hohen Fixkosten des Schienenverkehrs machen es unmöglich, dass mehr als ein Anbieter das Schienennetz betreibt. Entsprechend zielte die Bahnreform auf die Trennung von Netz und Betrieb durch Aufspaltung in unterschiedliche Konzernsparten ab. Dadurch sollte Wettbewerb im Betriebsbereich hergestellt und ein Verkauf einzelner Konzernsparten ermöglicht werden. Der Wettbewerb bleibt jedoch immer noch künstlich, da private Unternehmen sich aufgrund der auch ohne Netzbetrieb hohen Fixkosten (Züge, Stromkosten etc.) nur auf sehr lange Betriebszeiten bewerben und dadurch faktische Monopole erhalten. Aufgrund des Netzcharakters des Bahnverkehrs ist ein fragmentiertes Bahnwesen mit unterschiedlichen Tarifen, Ticketsystemen und Anbietern zudem unattraktiv für Kund*innen, sodass sich zwangsläufig Gebietsmonopole ergeben (so zum Beispiel im teilprivatisierten englischen Bahnsystem, Engartner, 2008). Eine am Wettbewerb orientierte Organisation des Verkehrssektors gilt aus diesen Gründen seit langem als problematisch. Der Netzcharakter widerspricht zudem der Anwendung betriebswirtschaftlicher Logik auf einzelne Strecken, denn ausschlaggebend für die Attraktivität des Bahnverkehrs insgesamt ist die Flexibilität und Anbindung des gesamten Netzes (Wolf & Knierim, 2019).
Folgen der Kapitalmarktorientierung
Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass die Struktur der Bahn als Aktiengesellschaft fundamental ungeeignet ist, gute, soziale Mobilität zu sichern und den Schienenverkehr auszubauen. Im öffentlichen Diskurs existiert trotz aller Probleme immer noch ein gewisses Wohlwollen der Deutschen Bahn gegenüber, die als ehemaliges Staatsunternehmen den Status eines Gemeinguts hält. Dabei geht der Blick auf die harten Realitäten der DB AG verloren: Seit der Bahnreform hat sich die DB AG zu einem hoch verschuldeten, international agierenden Mobilitätsunternehmen entwickelt (Luik, 2019). Die strukturellen Probleme des finanzialisierten Großunternehmens sind auch bei der Bahn zu spüren: Kurzfristorientierung, Verschuldung und internationale Geschäfte gehen auf Kosten der Qualität des Bahnverkehrs in Deutschland.
Die Hoffnung, dass die Umstrukturierung der Bahn den Schienenverkehr revitalisieren würde, bewahrheitete sich nicht. So konnte die Bahn ihren Marktanteil in Höhe von etwa 20 % in den letzten Jahren nur knapp halten, was im Kontext der ökologischen Auswirkungen der unmittelbaren Wettbewerber im Straßen- und Luftverkehr viel zu wenig ist (Umweltbundesamt, 2020). Von einem ‚gerechten Wettbewerb‘ der Verkehrsträger kann dabei keine Rede sein, denn Bund und Länder unterstützen den Straßenverkehr seit Jahren weit über die eigentlichen Kosten hinaus. Aus den Leitungsebenen des Konzerns DB AG ist dagegen wenig Widerstand zu erwarten, denn die Bahn hat zunehmend international in bahnfremde Aktivitäten unter anderem im Straßenverkehr investiert. So ist die Bahn mittlerweile das größte Logistikunternehmen Europas, allerdings vor allem durch Zukäufe im Bereich des LKW- und Luftverkehrs. Prominentes Beispiel ist der Erwerb der Stinnes AG mit der Marke Schenker im Jahr 2002 sowie die Übernahme des Speditionsunternehmens BAX Global. Gemessen am Frachtaufkommen ist die DB AG damit zum mit Abstand größten LKW-Logistikunternehmen Europas geworden (Wüpper, 2019). Mit den zeitweise mehr als 1000 Subunternehmen investiert der Konzern global in Projekte in Ländern wie China, Indien, Malaysia und Singapur. So betrug der Auslandsanteil des DB-Umsatzes 2019 bereits rund 50 %. In der Coronakrise haben internationale Verluste die Umsatzausfälle im Kerngeschäft des Unternehmens weiter verschärft (Krüger, 2020). Insbesondere die Zukäufe bei privatisiertem ÖPNV in anderen Ländern (zum Beispiel die in der englischen Bahnprivatisierung entstandene Arriva) sorgen nun für heftige Einbußen. 2019 hat der Bundesrechnungshof die internationale Ausrichtung der Bahn kritisiert und den Bund aufgefordert, die Aufgaben der Bahn zu konkretisieren und auf das Kerngeschäft auszurichten (Bundesrechnungshof, 2019). Schließlich finden Auslandsorientierung und Investition in bahnfremde Aktivitäten vor dem Hintergrund der finanziellen Absicherung durch den Bund statt, der die Bahn mit hohen Finanzspritzen regelmäßig unterstützt. Internationale Geschäfte binden darüber hinaus Know-How und die Aufmerksamkeit des Managements.
Die Orientierung an kurzfristigen Gewinnen auf Kosten von langfristiger Investition, die Kernaspekt des finanzialisierten Unternehmens ist, äußert sich auch in der Investitionspolitik der Bahn. So wurde das Schienennetz kontinuierlich verkleinert und notwendige Investitionen aufgeschoben. Seit 1990 wurden für kurzfristige Bilanzaufbesserungen etwa die Hälfte der Bahnhofsgebäude verkauft oder zu privatisierten Einkaufslandschaften ummodelliert, die vor allem von großen Ketten dominiert werden (Luik, 2019). Das Schienennetz wurde um etwa 17% reduziert, die Anzahl der Bahnhöfe um etwa 16 % verkleinert und die Anzahl der Weichen, Kreuzungen und Ausweichstrecken sogar um 54 % verringert (Wolf & Knierim, 2019). Im Kontext von steigenden Fahrgastzahlen wurde also an der Flexibilität und Leistungsfähigkeit der Infrastruktur gespart, was einer der Gründe für zunehmende Unpünktlichkeit ist. Die Pünktlichkeit ist im Jahr 2019 auf 75 % im Fernverkehr abgesackt – wohlgemerkt ausgenommen Zugausfälle und Verspätungen unter 6 Minuten. Noch 1999 lag die Pünktlichkeitsquote dagegen bei mehr als 90 % (Wolf & Knierim, 2019).
Investitionen, die im Schienennetz vorgenommen wurden, waren oftmals auf Verbindungen zwischen Metropolen und Prestige- und Finanzprojekte wie Stuttgart 21, beschränkt. Da die Bahn zumindest formell den Fernverkehr eigenwirtschaftlich betreiben muss konzentrierten sich Investitionen mit Blick auf besonders zahlungsfähige Fahrgäste im Bereich der Hochgeschwindigkeitsstrecken. Vorlage für diese Investitionspolitik war das aus dem Flugverkehr entlehnte Konzept ‚hubs and spokes‘, welches auf die Optimierung von einzelnen Strecken zwischen Verkehrsknotenpunkten setzt (Engartner, 2008). Dabei wird der Netzcharakter des Schienensystems fundamental ignoriert, denn kleine Zeitgewinne auf Hochgeschwindigkeitsstrecken können oftmals Zeitverluste durch langsame Anbindungen und Taktungen bei den Anschlüssen nicht ausgleichen. In der Folge verlängern sich durchschnittliche Reisezeiten mit Umstiegen, insbesondere für Reisen außerhalb städtischer Ballungsräume.
Die Behauptung, die Bahn wäre als privatrechtlich organisiertes Unternehmen langfristig profitabler und wirtschaftlicher, erwies sich als falsch. Während das Kerngeschäft aufgrund von Mangelinvestition und Ausverkauf von Kapital zurückgeblieben ist, wurde die Gesamtaktivität der Bahn durch hohe Schuldenaufnahmen finanziert. In der Durchsetzung der Bahnreform war das Schuldennarrativ ein wichtiges Argument für die Privatisierung. Um einen Neustart zu ermöglichen, übernahm der Bund die Altlasten der Staatsbahnen im Rahmen von 34 Mrd. Euro. Seit der Reform hat der Konzern trotzdem wieder Nettofinanzschulden in Höhe von 25,4 Mrd. Euro angehäuft (Bundesrechnungshof, 2019). Das ursprüngliche Ziel der Bahnreform war die Eigenwirtschaftlichkeit, und entsprechend verlangt der Bund für das eingesetzte Eigenkapital eine ‚kapitalmarktadäquate Verzinsung‘. Auch Fremdkapital muss die Bahn zu marktüblichen Preisen beschaffen (Böttger, 2017). Von Eigenwirtschaftlichkeit kann dabei keine Rede sein, denn etwa 15 % der Mittel der Bahn stammen aus staatlichen Geldern. Dazu gehören vor allem Investitionszuschüsse für die Infrastruktur (6,7 Mrd. Euro) und die Subventionierung des Nahverkehrs (4,7 Mrd. Euro) sowie regelmäßige Finanzspritzen und Verzichte auf Dividenden (Bundesrechnungshof, 2019). Als staatliches Unternehmen hätte die Bahn theoretisch die Möglichkeit, langfristige Investition zu geringen Zinssätzen zu finanzieren, entweder über direkte Zentralbankfinanzierung oder Staatsschulden. Im Status Quo wird auf diese Möglichkeiten jedoch zugunsten privater Geldgeber verzichtet, sodass der enorme Schuldenberg mit staatlicher Rückendeckung private Profite für private Banken und Anleger*innen finanziert.
Die Umwandlung der Bahn hatte weitgehende beschäftigungspolitische Auswirkungen. So verkleinerte die Bahn ihr Personal um rund die Hälfte von etwa 480.000 Beschäftigten im Jahre 1994 auf etwa 237.000 im Jahre 2006. Die reale Auswirkung auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von Stellenabbau in bahnnahen Betrieben, Zulieferern und öffentlichen Verkehrsunternehmen dürfte deutlich größer gewesen sein (Engartner, 2008). Die Bahnmitarbeitenden sind heute diejenigen, die an der eigenen Haut den Unmut über die Unzulänglichkeiten des Bahnsystems zu spüren kriegen. Die DB AG hat im Zuge der Gewinnorientierung Arbeitsprozesse enorm verdichtet und ehemalige Ausbildungsberufe entwertet. Die Attraktivität der Bahn als Arbeitgeber und die Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Unternehmen ist darum auf einem Tiefstand (Wüpper, 2019). Das Fehlen von qualifiziertem und motiviertem Personal sorgt für Service- und Sicherheitsmängel und stellt heute eine Barriere für die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs dar.
Die Unternehmenspolitik der DB AG hatte weitere gravierende Folgen, wie die Einführung von unübersichtlichen und intransparenten Ticketpreissystemen nach Modell des Luftverkehrs, die Erhöhung der Ticketpreise und die Investition in das Großprojekt Stuttgart 21.
Der Umbau der Bahn wurde durch ein Management vorangetrieben, welches zunehmend aus angrenzenden Sektoren wie der Automobil- und Luftfahrtindustrie rekrutiert wurde. Die Entwicklungen im Bahnverkehr sind jedoch nicht allein schlechtem Management anzulasten, sondern erwartbare Konsequenzen einer am Kapitalmarkt ausgerichteten Unternehmenspolitik. Die Unternehmenspolitik der DB AG zielte jahrelang mit Hinblick auf die Privatisierung auf einen möglichst hohen Aktionärswert beim Verkauf. Der Börsengang wurde jedoch immer wieder verschoben und zuletzt im Nachgang der Finanzkrise auf unbestimmte Zeit verschoben. Komplett abgesagt wurde der Börsengang jedoch nie, und an der grundsätzlichen Ausrichtung der Bahn AG als gewinnorientiertes Unternehmen hat sich wenig geändert. Die langfristigen Folgen dieser Unternehmenspolitik sind heute deutlich spürbar und behindern eine aktive Rolle der Bahn in einer Neugestaltung des Verkehrssystems.
Demokratisierung der Bahn
Um einen Rückbau des motorisierten Individualverkehrs möglich zu machen, braucht es attraktive und umweltfreundliche Alternativen. Damit die Bahn zu einer solchen werden kann, sind umfassende Investitionen nötig. Die Deutsche Bahn in ihrer Form als Aktiengesellschaft ist jedoch strukturell ungeeignet, um den Bahnverkehr als Teil einer sozial-ökologischen Wende voranzubringen. Neben der Frage der regulatorischen Rahmenbedingungen und der staatlichen Investition gilt es also eine Unternehmensstruktur für die Deutsche Bahn jenseits der Kapitalmarktorientierung zu entwickeln.
Im Folgenden schlage ich zu diesem Zweck eine Kombination aus einem demokratisierten staatlichen Unternehmen und regionalen öffentlichen Verkehrsunternehmen vor. Zentralstaatliche Koordination insbesondere des Netzes ist notwendig, denn die Attraktivität der Bahn hängt von einheitlichen Preissystemen, guten Taktungen für überregionale Mobilität und einem ausgebauten Schienennetz ab. All das lässt sich nur sinnvoll auf Bundesebene koordinieren. Darüber hinaus ist aber eine dezentrale Organisation des Bahnverkehrs nötig, um eine Ausrichtung der Mobilität an lokalen Bedürfnissen sicher zu stellen.
Bundesebene
Eine neu formierte Deutsche Bahn auf Bundesebene müsste in ihrer Struktur demokratisch und sozial-ökologisch orientiert sein. Eine Demokratisierung könnte wichtige Impulse für eine langfristige und am Klimaschutz orientierte Neuausrichtung der Bahn geben. Dazu sind zwei Ansatzpunkte vorstellbar – die Struktur des Aufsichtsrats und der Unternehmensgegenstand.
Momentan ist der Aufsichtsrat nach dem Standardmodell der Aktiengesellschaft mit 10 Vertreter*innen der Aktionärsseite (dem Bund) und 9 Repräsentant*innen der Arbeitnehmer*innen besetzt. Die Governance der Bahn bildet damit vorwiegend die gegenwärtigen politischen Verhältnisse ab. Alternativ dazu wäre im Sinne einer sozial-ökologischen Neuausrichtung eine zusätzliche Besetzung durch Fahrgast- und Umweltverbände sowie eine Stärkung der Mitbestimmung der Arbeitenden sinnvoll. Fahrgast- und Umweltverbände repräsentieren legitime Interessen, die bisher nicht in der Struktur der Bahn vertreten sind. Im Gegensatz zu den oftmals auf eine Wahlperiode beschränkten kurzfristigen Interessen der Politiker*innen, die den Bund vertreten könnte eine stärkere Repräsentation von Fahrgästen, Umwelt und Arbeitenden langfristige Ziele im Unternehmen verankern. Dadurch wäre die Bahn zudem breiter in der Bevölkerung verwurzelt und stärker Gegenstand demokratischer Debatte. Durch die Repräsentation der Arbeitenden wäre ein hohes Niveau technischer Expertise in der strategischen Planung und Ausrichtung der Bahn gesichert.
Neben der Demokratisierung müsste eine zukunftsfähige Bahn ihren Unternehmensgegenstand neu formulieren. Die bisherige Formulierung in der Satzung lässt Spielraum für bahnfremde Aktivitäten und enthält keine spezifischen sozialen oder ökologischen Zielsetzungen. Es wäre daher sinnvoll, den Unternehmensgegenstand auf die Bereitstellung des Schienenverkehrs in Deutschland einzugrenzen, um den Fokus auf das Kerngeschäft festzuschreiben. Gleichzeitig müsste eine explizite Gemeinwohlorientierung sowie die Einhaltung von Klimaschutzzielen Eingang finden. Zweck der Bahn wäre dann nicht die Erwirtschaftung von Gewinnen, sondern die Ausweitung klimagerechter Mobilität. Des Weiteren sollten soziale Zielstellungen wie die Anbindung vernachlässigter Regionen sowie die Bereitstellung von bezahlbarer Mobilität im Unternehmensgegenstand verankert werden. Eine solche Neuformulierung würde die Bahn zum Verkauf zahlreicher Subunternehmen zwingen und sie auf das Kerngeschäft fokussieren. Interessenskonflikte wie der gleichzeitige Betrieb von riesigen LKW-Flotten und des Güterverkehrs wären damit ausgemerzt und Know-How sowie Aufmerksamkeit des Personals und Managements am Bahnverkehr in Deutschland ausgerichtet.
Die Frage nach der Rechtsform einer solchen Unternehmensstruktur kann ich hier nicht abschließend beantworten. Grundgesetzlich ist die Bahn seit der Bahnreform als privatrechtliche Gesellschaft, d. h. zum Beispiel als Aktiengesellschaft oder GmbH zu betreiben. Für die Umsetzung oben genannter Ziele wäre eventuell eine Organisation als Anstalt öffentlichen Rechts angemessener, allerdings politisch unrealistischer.
Regionale Ebene
Um eine breite demokratische Kontrolle und eine Ausrichtung an lokalen Bedürfnissen zu sichern, wäre ein Betrieb der Regionalbahnen und des ÖPNV außerhalb des Bahnkonzerns sinnvoll.
Im Fernverkehr dominiert der DB-Konzern zurzeit noch ohne nennenswerte Mitbewerber. Im starken Gegensatz dazu sind die Regionalverkehre (Strecken in der Regel bis zu 50 km) zunehmend zersplittert und werden von unterschiedlichen Mobilitätsunternehmen betrieben. Während der Fernverkehr offiziell eigenwirtschaftlich funktionieren soll, wird der Regionalverkehr umfassend aus Bundesmitteln gefördert. Im Rahmen der sogenannten Regionalisierungsmittel werden vor allem aus dem Aufkommen der Mineralölsteuer und weiteren Bundesmitteln aktuell 8,8 Mrd. Euro an die Länder zur Finanzierung des Regionalverkehrs ausgezahlt (Engartner, 2016). Die Subventionierung des Regionalverkehrs kann weitgehend als Erfolg angesehen werden, denn die Fahrgastzahlen steigen seit Jahren (Wolf & Knierim, 2019). Aus den Regionalisierungsmitteln werden Ausschreibungen für den Betrieb bestimmter Strecken finanziert. Diese sind öffentlich und stehen damit sowohl dem Branchenriesen DB Regio AG als auch kleineren Betreibern offen. Der Betrieb durch private Betreiber und auch durch die DB Regio AG hat sich in vielerlei Hinsicht als problematisch erwiesen. Gewinnorientierte Unternehmen müssen eine höhere Eigenkapitalrendite erwirtschaften, um über die Kostendeckung hinaus Gewinne zu finanzieren. Zudem müssen private Unternehmen sich auf dem Kapitalmarkt refinanzieren und haben darum einen höheren Gewinndruck als durch den Staat abgesicherte Betreiber.
Um demokratische Teilhabe und effiziente Bereitstellung öffentlicher Mobilität zu gewährleisten, wäre ein Betrieb des Regionalverkehrs durch kommunale oder regionale Verkehrsunternehmen sinnvoll. Analog zur Umstrukturierung des Bahnkonzerns müssten solche Unternehmen demokratisch verfasst und durch den Unternehmensgegenstand an soziale und ökologische Zielsetzungen gebunden werden. Durch die Vertretung lokaler Politiker*innen und Verbände wäre eine demokratische Regulierung und Anbindung an lokale Bedürfnisse abgesichert. Der Betrieb durch ein kommunales integriertes Verkehrsunternehmen könnte zudem Koordinationsprobleme zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern entgegenwirken und Synergieeffekte durch die zentrale Zusammenführung öffentlicher Mobilitätsmodelle wie Bus, Bahn sowie Car- und Bikesharing erzielen. Solche Verkehrsunternehmen könnten die Regionalisierungsmittel erhalten und für die Bereitstellung öffentlichen Nahverkehrs nutzen. Aufgrund der Rückendeckung durch den Staat könnten diese günstig Kredite für sinnvolle Investitionen aufnehmen und regionale öffentliche Mobilitätsprojekte umsetzen.
Rahmenbedingungen
Selbstverständlich wird eine Umstrukturierung der Bahn nach den oben genannten Vorschlägen ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn die Rahmenbedingungen für eine Verkehrswende gesetzt sind. Dazu bedarf es umfassender staatlicher Regulierungen des Verkehrssystems und vor allem zusätzlicher Investitionen und Subvention des Schienenverkehrs.
In der Literatur wird dabei oftmals Bezug auf den Begriff des intermodalen Wettbewerbs genommen, d. h. auf den Wettbewerb unterschiedlicher Verkehrsträger. Damit lässt sich anschaulich verdeutlichen, wie die verschiedenen Verkehrsträger unter sehr unterschiedlichen Bedingungen operieren. Der straßengebundene Personen- und Güterverkehr verursacht verschiedenste Kosten, die sich nicht im individuellen Preis erschöpfen. Zu den nicht eingepreisten, also externalisierten öffentlichen Kosten zählen Straßenbau und Betrieb, Unfallkosten, Umweltschäden sowie zahlreiche weitere Kosten wie beispielsweise die Verkehrssicherung und Parkraumbereitstellung. Laut einer Studie aus dem Jahre 2017 entstehen insgesamt öffentlich getragene Kosten von etwa 60 Mrd. Euro im Jahr sowie nicht-zahlungswirksame Kosten (zum Beispiel durch Umweltverschmutzung) von mindestens 34,3 Mrd. Euro (Böttger, 2017). Nicht eingerechnet sind dabei Kosten, die schwer zu beziffern sind, wie zum Beispiel Feinstaub- und Stickoxidbelastung, Lärm, Flächenverbrauch und Zeitkosten der Reisenden sowie vor- und nachgelagerte Prozesse (Produktion und Entsorgung). Auf der Ausgabenseite sind zudem Subventionen für den Individualverkehr wie die sogenannte Abwrackprämie (Volumen 2,5 Mrd. Euro), die Kaufprämie für Elektroautos (0,6 Mrd Euro) sowie Posten aus diversen Konjunkturpaketen nicht eingerechnet. Demgegenüber stehen auf der Einnahmenseite die LKW-Maut mit einer Höhe von 4,6 Mrd. Euro, die Einnahmen aus der Kfz-Steuer (etwa 9 Mrd. Euro) sowie der Energiesteuer (etwa 40,1 Mrd. Euro). Insgesamt stehen also Kosten von mindestens 94,3 Mrd. Euro Einnahmen von 53,7 Mrd. Euro gegenüber.
Die Berechnung der öffentlichen Ausgaben für den Schienenverkehr ist einfacher, denn die externen Kosten sind vergleichsweise gering (von den 149 Mrd. Euro externen Kosten des Verkehrs in Deutschland entfallen etwa 94,5 % auf den Straßenverkehr und nur 3,8 % auf die Schiene; Umweltbundesamt, 2020). Öffentliche Ausgaben für die Bahn bestehen vor allem in Infrastrukturausgaben und den Regionalisierungsmitteln. 2017 erhielt die Bahn für den Erhalt und Ausbau der Infrastruktur etwa 5,5 Mrd. Euro aus Bundesmitteln. Dazu kommen die Regionalisierungsmittel in Höhe von 8,2 Mrd. Euro. Auf der Einnahmenseite stehen dagegen etwa 450 Mio. Euro aus Stromsteuern, EEG-Umlage, Emissionszertifikaten und Energiesteuern für Dieselloks.
Der Vergleich öffentlicher Ausgaben und Einnahmen mit Blick auf den intermodalen Wettbewerb zeigt, dass der öffentliche Verkehrsträger Bahn wesentlich weniger Gelder aus öffentlichen Mitteln erhält als der straßengebundene Verkehr. Diese direkten Ausgaben stehen im Missverhältnis zu den Kosten, die der Straßenverkehr verursacht. Um die Bahn als Alternative zu positionieren, wäre darum neben einer neuen Unternehmensstruktur eine Verschiebung der öffentlichen Ausgaben zum Schienenverkehr vonnöten. Eine gelingende Verkehrswende müsste entsprechend den Rückbau des Individualverkehrs mit wesentlich erweiterten Subventionen von Infrastruktur und Ticketpreisen bei der Bahn komplementieren. Dabei sind insbesondere die sozialen Auswirkungen im Blick zu behalten, denn das Auto wird gerade in ländlichen Regionen und Randgebieten noch lange schwer verzichtbar bleiben.
Um diese Investitionen zu stemmen, wäre eine Direktfinanzierung der Bahn aus staatlichen Mitteln sinnvoll. Die niedrigen Zinssätze, zu denen der Bund Kapital akquirieren kann, sollten direkt den Investitionen ins Schienennetz zugutekommen. Das bisherige Konstrukt, in dem der Bund zumindest formal kapitalmarktadäquate Verzinsung erwartet, dann aber die Bahn durch Kapitalhilfen und Dividendenverzichte wiederum unterstützt, ist nicht sinnvoll.
Klimagerechtigkeit setzt eine starke Bahn voraus. Dafür wiederum braucht es eine Einschränkung des Autoverkehrs. Um den Umbau des Automobilsektors und seine Demokratisierung geht es im nächsten Teil dieser Serie.
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