Dieser Artikel erschien ursprünglich im Blog Postwachstum.
Anfang 2020 sahen mein Kollege Max und ich als Aktivisten in der Degrowth- und Klimagerechtigkeitsbewegung die Wachstumskritik im deutschsprachigen Raum in einer strategischen Sackgasse. Kurz vor der Gründung von communia empfahlen wir in einem Artikel in der OXI, von linkspopulistischen Bewegungen in Großbritannien zu lernen, um ein kohärentes und radikales, gewinnbares politisches Projekt zu formulieren. Aus unserer Sicht steckten Degrowth und Postwachstum bereits seit einiger Zeit fest – und das aus drei wichtigen miteinander verbundenen Gründen.
Erstens ist eine Analyse, die Wachstum als Ursache der multiplen Krisen identifiziert, unzureichend. Vielmehr bedarf es einer tiefgreifenderen Kritik des Kapitalismus, der dem Wachstumszwang zugrunde liegt. Wachstumskritik kann dazu einen Einstieg bieten, häufig bleibt es jedoch dabei.
Zweitens führt diese Verengung auf Wachstum als zentrales Problem zu Strategien und Maßnahmen, die in ihrer transformativen Kraft beschränkt sind. Die wachstumskritische Bewegung fokussiert sich in Deutschland häufig auf individualisierte statt systemische Ansätze (Konsumverzicht, Rückzug), auf technokratische ökologische Reformen, oder auf Appelle an einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel. Dabei werden reale Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet oder unsichtbar gemacht.
Durch moralische, individuelle oder gemäßigt reformistische Ansätze lässt sich der Wachstumszwang jedoch nicht abstellen. Denn der liegt in der Eigentums- und Konkurrenzordnung des Kapitalismus selbst begründet. Wenn aber keine grundlegende Transformation, keine bessere Zukunft erreichbar ist, werden sich Menschen jenseits der aktivistisch-akademischen Bubble schwerlich für das Projekt „Degrowth“ begeistern lassen.
Drittens, also, haben Degrowth und erst recht Postwachstum kein soziales Projekt zu bieten und sprechen stattdessen nur oder vor allem jene an, die materiell ohnehin bessergestellt sind und sich dem grünen oder linksgrünen Lager zugehörig fühlen. Ohne grundlegende Macht- und Ausbeutungsverhältnisse lösen zu können oder zu wollen, wird der Ansatzpunkt über die Wachstumsfrage immer nur sehr eingeschränkt anschlussfähig bleiben.
Transformation gelingt nur mit der richtigen Analyse
Degrowth im Sinne einer massiven und schnellen Reduzierung des gesellschaftlichen Material- und Energiedurchsatzes wird jeden Tag dringender. Damit wir dieses Ziel aber überhaupt erreichen können, braucht es eine fundiertere Analyse, einen daraus abgeleiteten radikalen und umsetzbaren Plan und damit ein begeisterndes soziales Projekt. Nur wenn wir die Wurzeln des Problems verstehen können wir wissen, an welchen Schrauben wir drehen müssen. Erst wenn wir eine konkrete Strategie haben können wir gewinnen. Erst wenn wir gewinnen können, können wir Degrowth umsetzen.
Für eine gründlichere Analyse muss der Wachstumszwang auf seine Ursachen zurückgeführt werden. Das bedeutet eine fundierte Kritik des Kapitalismus und insbesondere ihrer Eigentumsordnung des Privateigentums an Produktionsmitteln. In der Tatsache, dass extrem Wenige über unser Wirtschaften bestimmen und das unter Wettbewerbsdruck und für Profite tun, statt Bedürfnisse und sozial-ökologische Gerechtigkeitsziele zu verfolgen, liegt der Grund für das zerstörerische Wachstum des Kapitalismus und, verwoben mit Patriarchat, Rassismus und Imperialismus, die Ursache der multiplen Krisen.
Aus dieser Analyse ergibt sich auch ein Mittel: Mit dem Instrument der Vergesellschaftung lässt sich die Eigentumsordnung der aktuellen Wirtschaftsordnung ins Wanken bringen und eine neue, demokratische, gerechte und ökologische Wirtschaft wird gestaltbar. Erst wenn wir kollektiv über den gesellschaftlichen Wohlstand verfügen und unsere Wirtschaft demokratisch so umbauen können, dass sie nicht länger auf Ausbeutung und Zerstörung beruht, wird eine Bearbeitung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts möglich.
Schließlich lässt sich aus der Analyse der Eigentumsverhältnisse und der Strategie der Vergesellschaftung – also der gemeinsamen, demokratischen Gestaltung der Wirtschaft – ein politisches Projekt formulieren, das unmittelbar eine reale materielle Verbesserung für die Vielen bedeutet und konkrete Schritte aufzeigt, die im Hier und Jetzt ansetzen, über das Bestehende hinausweisen und nicht durch kapitalistische Dynamiken vereinnehmbar sind. Unser Vorschlag dafür heißt: Öffentlicher Luxus. Indem wir die Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Wohlstand und damit ein besseres Leben für alle erkämpfen, ermöglichen wir, unsere Wirtschaft demokratisch und nachhaltig umzubauen und den Materialdurchsatz gerecht und demokratisch zu verringern.
In unserem Buch „Öffentlicher Luxus“ schreiben wir:
Die notwendige Transformation macht vielen Menschen Angst. Entsprechend stark ist der Wunsch, am Bekannten, am vermeintlich Sicheren festzuhalten. Solange die mit der anstehenden Transformation verbundenen Verteilungs- und Eigentumsfragen nicht adressiert werden, gehen viele […] zu Recht davon aus, dass die Veränderungen auf ihre Kosten gehen werden. Sobald wir jedoch den notwendigen Umbau hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft als Teil einer größeren Transformation denken, die grundsätzlich verändert, wie und vor allem welchen Reichtum wir produzieren und wie wir ihn verteilen, dann kann sich diese Angst auflösen. Wir müssen aufhören, uns zu erzählen, dass wir alle verzichten müssen, während das so offensichtlich nur für diejenigen gilt, die von ihrem Lohn leben müssen, während der Champagner auf der Luxusjacht weiterfließt. Stattdessen lohnt es sich, für eine Transformation hin zu Öffentlichem Luxus zu kämpfen, der gesellschaftlichen statt individuellen Reichtum schafft und allen ein gutes und freies Leben ermöglicht. Nur dann können wir die anstehenden Veränderungen voller Hoffnung angehen. Nur so wird Zukunft wieder zur Verheißung.
Öffentlicher Luxus ist der bedingungslose (d. h. auch kostenlose) Zugang zu essenziellen Leistungen und Gütern. Alle Menschen haben ein Recht auf hochwertige Versorgung in den Bereichen Wohnen, Energie (Strom, Wärme etc.), Gesundheit, Pflege und Care, Bildung, Mobilität, Ernährung, Kultur, Medien und digitale Infrastruktur. Öffentlicher Luxus bedeutet eine Aufwertung all dessen, was wir wirklich für ein gutes Leben brauchen, und entzieht wesentliche, alltägliche Bereiche der Markt- und Profitlogik. Damit rückt er auch bisher vernachlässigte oder weniger wahrgenommene Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion in den Vordergrund. Öffentlicher Luxus bedeutet, Arbeiten wie die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen aus dem Privaten zu holen und als gesellschaftliche Aufgabe zu organisieren. Öffentlicher Luxus schafft materielle Sicherheit für alle. Der Zugang zu grundlegenden Gütern wie Wohnraum, Heizung, Nahrung oder Mobilität hängt nicht mehr von der individuellen Zahlungs- und damit Leistungsfähigkeit ab, auch nicht von staatlichen Sozialleistungen und damit zusammenhängenden Anforderungen oder Restriktionen. Ob am Ende des Monats noch Geld fürs Essen da ist, ob die Rente reicht, um am Lebensende nicht in Altersarmut zu geraten, ob die Pflege für Eltern oder Großeltern bezahlbar ist – diese ökonomischen Sorgen nimmt uns Öffentlicher Luxus. Öffentlicher Luxus würde auch vieles im Alltag einfacher und schöner machen. Es gäbe hochwertige öffentliche Toiletten, öffentliche Küchen und günstiges, gutes Essen für alle, kostenlose und zuverlässige Verleihräder an jeder Ecke, nach Bedarf mit E-Motor oder als Lastenrad und alles, ohne jedes Mal eine neue App herunterladen zu müssen. Über all das hinaus bringt uns Öffentlicher Luxus ein größeres Maß an Freiheit: Durch eine Stärkung und bedingungslose Bereitstellung der Dinge, auf die es ankommt, gewinnen wir Zeit für uns und für die gemeinsame Gestaltung unserer Welt.
Öffentlicher Luxus beruht auf der Wiederherstellung und Ausweitung öffentlichen Eigentums an Infrastrukturen der Daseinsvorsorge und weiterer Teile der Wirtschaft sowie ihrer gemeinwirtschaftlichen und demokratischen Organisation. Anstatt die Gestaltung unserer Wirtschaft privatisierten Konzernen und ökonomischen Kalkülen zu überlassen, die unsere Lebensgrundlagen zerstören, zu immer größerer ökonomischer Ungleichheit führen und öffentliche Versorgungsstrukturen kaputtsparen, zielt Öffentlicher Luxus auf eine kollektive, demokratische und gerechte Gestaltung, Erhaltung und Verbesserung unserer wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Damit ist Öffentlicher Luxus ein Gegenentwurf zu privatem Luxus Einzelner (und der damit zusammenhängenden Armut vieler). Um öffentliche Dienste für alle zu organisieren, macht er Schluss mit der extremen Konzentration von Reichtum. Stattdessen schafft Öffentlicher Luxus kollektiven Reichtum. Statt Privatjets, privaten Pools oder Golfplätzen gibt es einen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr, Bahnhöfe, die zum Verweilen einladen und nicht nur kommerzialisierte Durchgangsorte sind, Fernstrecken, die auch weite Reisen im Nachtzug angenehm werden lassen, eine flächendeckende Versorgung mit gut ausgestatten Kitas, Schulen und Pflegeeinrichtungen, kostenlosen Breitbandausbau und -zugang, öffentliche Kantinen für alle, öffentliche Schwimmbäder und Zugang zu Seen und Flüssen sowie öffentliche Parks und Grünflächen, die alle nutzen können. Öffentlicher Luxus ist Luxus der Vielen: Statt übermäßigen Reichtum für wenige, bedeutet Öffentlicher Luxus bedingungslose Grundversorgung und ein gutes Leben für alle.
[…] Die Krisen unserer Zeit sind keine Ansammlung getrennt voneinander existierender Herausforderungen, die sich widersprechende Lösungen verlangen. Vielmehr haben sie gemeinsame Ursachen in unserem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, in Profitorientierung, Privateigentum und Marktlogik. Lösungen für die Vielfachkrise müssen daher nicht miteinander konkurrieren, wie uns Politiker*innen glauben machen wollen, wenn sie soziale und ökologische Fragen immer wieder geschickt gegeneinander ausspielen. Tatsächlich sind ökologische und soziale Gerechtigkeit nahezu symbiotisch – sie brauchen einander. Eine transformative Klimapolitik, die nicht davor zurückscheut, Eigentumsordnung und Profitorientierung infrage zu stellen, hat der überwiegenden Mehrheit der Menschen reale Verbesserungen in ihrem Leben anzubieten. Wenn wir statt Autos Straßenbahnen und E-Busse bauen, reduzieren wir die Abhängigkeit von fossilen Energien und schaffen Platz in unseren Städten. Wenn Shoppingmalls zu Sorgezentren oder Verleihstationen werden, sparen wir uns sinnlose Konsumtempel und schaffen Platz für das, was zählt. Wenn wir die Macht der Konzerne über den Wohnmarkt brechen, können wir ökologische Sanierung und bedarfsgerechten Umbau der Wohnraumversorgung ohne Ausschlüsse organisieren. Indem wir extremen privaten Reichtum angreifen, können wir Öffentlichen Luxus schaffen.
Öffentlicher Luxus realisiert und ermöglicht durch die kollektive Versorgung mit allem Wesentlichen eine genügende und genügsame Degrowth-Vision. Das kann gelingen, weil der Ansatz an der Wurzel anpackt. Ohne die kapitalistische Eigentumsordnung zu transformieren, können wir die zerstörerische Wachstumsspirale nicht stoppen. Deswegen brauchen wir Vergesellschaftung für Öffentlichen Luxus für Degrowth. Die Perspektive Öffentlicher Luxus erlaubt es, glaubhaft auf Verzichtserzählungen auszubrechen und statt nur auf die Krisen auf eine bessere Zukunft zu schauen – eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Das Buch „Öffentlicher Luxus“ von communia und der BUNDjugend erscheint bei Dietz Berlin und ist im Buchhandel sowie kostenfrei digital verfügbar.