Dieser Artikel von Karla Hildebrandt erschien zuerst in der Agora42, Ausgabe 03/2023 zu „Normalität“.
„In Berlin, Socialism Is Suddenly Hot Again“, kommentierte die New York Times den Erfolg der Initiative „Deutsche Wohnen und Co Enteignen“ (DWE) beim Berliner Volksentscheid im Sommer 2021. 59,1 Prozent der Berliner*innen, über eine Million Menschen, stimmten für die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohneinheiten. Der Vorschlag der Initiative sieht vor, die privaten Konzerne, die zusammen mehr als 20 Prozent des Berliner Wohnungsmarktes kontrollieren, gegen Entschädigung zu enteignen und die Wohnungen in eine demokratisch verwaltete und gemeinwohlorientierte „Anstalt öffentlichen Rechts“ zu überführen.
Was von Medien häufig als Rache gegenüber den Großvermietern gewertet wurde, ist mehr als nur ein Abwehrkampf gegen eine rein gewinnorientierte Wohnpolitik. Die Vergesellschaftung ist ein konkreter Vorschlag für den Aufbau einer neuen, demokratischen Wohnungswirtschaft jenseits der profitgetriebenen Überhitzung des Wohnungsmarktes. Der Berliner Volksentscheid wurde deswegen weltweit als hoffnungsvoller Bruch mit der globalen neoliberalen Normalität wahrgenommen.
Das Ziel von Vergesellschaftung ist eine demokratische Wirtschaft – nicht nur im Bereich Wohnen. Die Wissenschaftlerin und DWE-Aktivistin Jenny Stupka beschreibt drei Wirkungen der Vergesellschaftung: (1) Sie verschiebt die Verfügungsmacht – aus privatem Eigentum wird Gemeineigentum. (2) Sie verwandelt die Verfügungsweise – an die Stelle von Marktmechanismen tritt demokratische Kontrolle. (3) Sie ersetzt das Ziel der Profitmaximierung, durch jenes der Erfüllung von (Grund-)Bedürfnissen. Vergesellschaftung rüttelt damit an Grundfesten der neoliberalen Normalität.
Sonntagsausflug in die Normalität der Verdrängung
Die Warschauer Brücke in Berlin ist einer der vielen Orte, an denen die Prioritäten neoliberaler Stadtpolitik deutlich wird: Am Wochenende herrscht hier reges Treiben. Frühaufgestandene sind auf dem Weg zum Flohmarkt auf dem RAW-Gelände, dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk-Friedrichshain. Zwischen Essensständen, Fotoautomaten und Sitzecken aus Holzpaletten werden dort Kunst, Second-Hand-Mode und Antiquitäten angeboten. Sie begegnen da Menschen, die bis früh in den Morgen gefeiert haben. Der Berliner Tagesspiegel bezeichnet diese Szene als „letztes Überbleibsel“ der Nachwendekultur. Nach dem Fall der Mauer entstanden auf ehemaligen Industrieflächen in Nähe des Mauerstreifens Kultur- und Clubszene, Wagenplätze und andere Freiräume. Dieser Kultur, mit der Berlin weltweit strategisch vermarktet wird, wird durch eine Stadtplanung der Raum genommen, die neoliberaler „Stadtentwicklung“ den Vorzug gibt.
Das wird augenfällig, wenn man auf der Warschauer Brücke steht und den Blick gen Himmel richtet. Über dem bunten Treiben auf dem RAW-Gelände ragt die Baustelle für eines der größten Hochhäuser Berlins, den 140-Meter-hohen East Side Tower – ein Projekt, das den Protesten und den Plänen der lokalen Bevölkerung zum Trotz realisiert wird. Bereits vor Fertigstellung hat der vielfach kritisierte Onlinehandels-Riese Amazon den Tower komplett gemietet. Dahinter liegt auf nahtlos versiegelter Fläche die neue Mercedes-Benz-Arena und das Einkaufszentrum East Side Mall, laut einer Zeit-Reportage ein „Ort urbaner Hoffnungslosigkeit“. Die Flohmärkte und Clubs auf dem RAW-Gelände sollen unter anderem dem Bürokomplex „Berlin Forest“ weichen, der zwar die lokale Kulturszene verdrängt, aber mit begrünten Fassaden wirbt.
Hier wird die neoliberale, profitorientierte Normalität gegen vorhandene Strukturen durchgesetzt: Konsumorte, Büros und Techkonzerne sind erwünscht, Kiezkultur und Gestaltung der Nachbarschaft durch die Anwohner*innen haben keinen Wert. Dieses profitgetriebene Muster der Stadtpolitik kann man weltweit beobachten, in London wie in Hamburg, in Lima wie in Bangkok.
Der Legitimation des Neoliberalismus dient die Erzählung, dass öffentliche Güter ineffizient sind und nachlässig verwaltet werden, dass Privatisierung und Profitorientierung effizienter sind und allgemeinen Wohlstand bringen. Doch gemäß der neoliberalen Logik haben Unternehmen nur eine soziale Verantwortung: Profite zu erwirtschaften. Dafür müssen immer mehr Räume, Güter und Beziehungen „inwertgesetzt“ werden. Der Neoliberalismus verspricht das Gute Leben, macht den Zugang zu Räumen und Gütern aber abhängig vom Vermögen. Deswegen gehört zur neoliberalen Normalität der Niedriglohnsektor ebenso dazu, wie die Verdrängung nicht gewinnorientierter Kultur und explodierende Mieten.
Gemäß dieser Logik wurden global Systeme öffentlicher Daseinsvorsorge und Gemeineigentum privatisiert und damit für Profitinteressen geöffnet: Beispiele sind der fast vollständige Abbau des Sozialstaats in Chile – von der Wasserversorgung bis zur Altersvorsorge – in den 1970er-Jahren sowie die Eisenbahn-Privatisierung in Großbritannien oder der Verkauf städtischer Wohnungen in Berlin an Konzerne wie Deutsche Wohnen in den 1990er-Jahren. Nach 30 Jahren lässt sich sagen, dass der Berliner Wohnungsmarkt ein weiteres Beispiel dafür ist, dass Privatisierung die Versorgungsqualität drastisch verschlechtert, die Preise hingegen steigert. Die großen Wohnungskonzerne verschleppen Instandhaltung, erhöhen Mieten und machen auffällig viele Fehler in den Nebenkostenabrechnungen.
Another World is Possible
Seit Jahrzehnten wehren sich global Bewegungen und Aktivist*innen gegen neoliberale Politiken: die Zapatistas kämpfen seit Mitte der 1990er-Jahre in Mexiko gegen profitorientierte Landnahme und für lokale Selbstbestimmung, die Protestierenden von Occupy Wallstreet setzten sich mit dem berühmten Slogan „We are the 99%“ gegen grassierende Ungleichheit und den Einfluss des Geldes auf die Politik ein und die Besetzer*innen im Hambacher Forst und in Lützerath wehrten sich gegen die Zerstörung von Forst und Dörfern für das fossile Energiesystem – um nur wenige Beispiele zu nennen. All diese Kämpfe werden häufig als Protest und Abwehr gegen neoliberale (Finanz-)Politik und die Inwertsetzung von Natur und Gemeinschaft wahrgenommen, aber bei genauem Hinsehen schaffen sie Räume, in denen neue Wirtschafts- und Vergesellschaftungsformen gelebt werden.
Häufig blitzen diese Alternativen jedoch nur kurz auf und werden schnell von der neoliberalen Normalität eingeholt. Sie werden geräumt, lösen sich auf oder werden nicht mehrheitsfähig. Dass vor allem Letzteres auch anders gehen kann, zeigt „Deutsche Wohnen und Co enteignen“. Einer der wichtigsten Faktoren dafür sind die jahrelangen Mieter*innenkämpfe, im Zuge derer sich verschiedene Mieter*inneninitiativen berlinweit gebildet haben und Organizing, also organisatorische Grundlagenarbeit, geleistet haben. Eine dieser Gruppen ist die Initiative „Kotti & Co“, die sich für die Rekommunalisierung ihrer Siedlung, gegen rassistische Wohnpolitik und steigende Mieten einsetzen. Sie forderte 2016 das erste Mal „Deutsche Wohnen enteignen“ und bezog sich dabei auf den nie angewendeten Artikel 15 des Grundgesetzes. Dieser besagt, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel (…) zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“ können. Artikel 15 sollte bei Entstehung des Grundgesetzes eine Möglichkeit verankern, zu große wirtschaftliche Machtanhäufung zu verhindern.
DWE schlägt nicht einfach nur vor, mit der Vergesellschaftung Privatisierungen rückgängig zu machen. Denn auch die Landeseignen Wohnungsbaugesellschaften stehen wegen rassistischer Wohnungsvergabepolitik in der Kritik sowie wegen schlechter und intransparenter Verwaltung ohne oder nur mit geringen Mitbestimmungsmöglichkeiten durch Mieter*innen und Beschäftigte. Im Frühjahr 2023 hat die Initiative daher ein detailliertes Konzept für die gemeinwirtschaftliche Verwaltung der Bestände vorgelegt: eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) – eine feste, juristische Struktur für eine neue Normalität. Eine AöR ist eine mit Sachmitteln (beispielsweise Gebäude oder Fuhrpark) und Personal ausgestattete juristische Person des öffentlichen Rechts, die von einem Träger der öffentlichen Verwaltung gehalten wird und dauerhaft einem öffentlichen Zweck dient. Ein bekanntes Beispiel sind die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Die AöR, die die vergesellschafteten Wohnungsbestände verwalten soll, hat die Besonderheit, dass mit ihr die demokratische Eigenverwaltung der Mieter*innen unter Beteiligung der Beschäftigten und der übrigen Stadtgesellschaft ermöglicht werden soll. Die Mieter*innen sollen durch verschiedene Räte, vor allem den Gesamtrat vertreten werden sowie durch Vertreter*innen im Verwaltungsrat. Die Interessen der Beschäftigten sollen durch Vertreter*innen im Verwaltungsrat eingebracht werden, in dem auch die übrige Stadtgesellschaft sowie der Berliner Senat durch Vertreter*innen Mitbestimmungsmöglichkeiten erhalten sollen. Dieser Verwaltungsrat wiederum soll die Geschäftsführung der AöR berufen.
So soll sichergestellt werden, dass die Interessen von Mieter*innen, Beschäftigten und der gesamten Berliner Stadtgesellschaft in die Bewirtschaftung der Wohnungsbestände miteinbezogen werden, die Wohnraumvergabe transparent, fair und diskriminierungsfrei erfolgt und die Miethöhe sowie die Kosten für Sanierungen und die Umsetzung von Klimaschutz in den Beständen gerecht ausgestaltet wird.
Wohnraum ist allerdings nicht der einzige Bereich, in dem es dringend notwendig ist, Grundbedürfnisse dem Profitstreben zu entziehen. Auch in den Bereichen Pflege, Energie, Verkehr und den großen Internetplattformen würde eine Vergesellschaftung eine demokratische, gemeinwohlorientierte Nutzung und Verwaltung ermöglichen. Entscheidend ist, dass es nicht nur um die Absicherung grundlegender, sondern um die umfassende Erfüllung von Bedürfnissen sowie um die kollektive, demokratische Gestaltung dieser Bereiche geht. Vergesellschaftung zielt damit auf die Überwindung von Machtverhältnissen und auf die Sicherung von Zugängen jenseits von Einkommen und Vermögen. Sie bietet kollektive Sicherheit, die nicht von der Situation oder vom Verhalten des Individuums abhängt oder verloren gehen kann.
So könnte durch Vergesellschaftung das Recht jedes Menschen auf Wohnraum, Gesundheitsversorgung oder Mobilität effektiv umgesetzt und abgesichert werden.
Öffentlicher Luxus
Vergesellschaftung würde auf diese Weise Sicherheit und Fülle ermöglichen. Der Think Tank communia spricht deswegen davon, dass Vergesellschaftung „öffentlichen Luxus“ schafft. Im Bereich Wohnen bedeutet das sicherer, günstiger Wohnraum, der durch die Bewohner*innen sowie die Beschäftigten gestaltet wird, unter Berücksichtigung der Interessen der übrigen Stadtgesellschaft. So sollen auch die Freiräume gesichert werden, wie sie an der Warschauer Brücke gerade verschwinden, in denen Kunst und Kiezkultur Platz haben und die eine Stadt lebenswert und einzigartig machen. Vergesellschaftung kann damit mehr als Verdrängung und hohe Mieten verhindern: Sie bietet (Versorgungs-)Sicherheit in wechselseitiger Verantwortung und hebelt damit die neoliberale Logik aus, die individuelle Sicherheit an Eigentum und Einkommen bindet. Vergesellschaftung ist damit eine Antwort auf die Ängste vor Verzicht und Einschränkung, welche aktuell in den Debatte um die sozial-ökologische Transformation und die Klimakrise zum Ausdruck kommen.
Luxusyachten, Kreuzfahrten und Privatjets mögen kein Teil der klimagerechten Zukunft sein, gerechte Verteilung, umfassende soziale Sicherheit und öffentlicher Luxus können hingegen ihre Grundlage sein. Vergesellschaftung kann damit Hoffnung geben, die zerstörerische neoliberale Normalität zu überwinden – und ist damit ein Aufruf zum Handeln: für demokratisches Gemeineigentum, für alle und für immer.
Karla Hildebrandt ist Ökonomin und Aktivistin bei Deutsche Wohnen & Co. Enteignen sowie Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung und des ILA-Kollektivs.
Von der Autorin empfohlen:
communia & BUNDjugend (Hg.): Öffentlicher Luxus (Dietz, erscheint am 01.11.2023)
Deutsche Wohnen und Co enteignen: Gemeingut Wohnen. Eine Anstalt öffentlichen Rechts für Berlins vergesellschaftete Wohnungsbestände (2023)
Miete essen Seele auf von Angelika Levi (2015) – über die Initiative Kotti & Co; auf youtube abrufbar.
Start Wearing Purple von Müge Süer und Hendrik Kintscher (2022) – über DWE; mehr dazu: filmpurple.com.