Hintergrund: Was ist eine demokratische Wirtschaft?
Aug 3, 2021

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen adaptierten Auszug aus dem mit dem Förderpreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg ausgezeichneten Buch „Aufbruch in eine demokratische Wirtschaft“ von Lukas Warning. In diesem ersten Teil geht es um unterschiedliche Aspekte und Begründungen für eine demokratische Wirtschaft. Der zweite Teil widmet sich unterschiedlichen Formen einer demokratischen Wirtschaft.

Es gibt vielfältige und teils widersprüchliche Interpretationen, was genau eine demokratische Wirtschaft bedeutet. Wenn von ‚Wirtschaftsdemokratie‘ die Rede ist, reichen die Interpretationen von der Forderung ausgebauter Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeitenden oder der Gewerkschaften im kapitalistischen Unternehmen bis zur Vision der vollständigen Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln, sprich des Sozialismus. Die meisten Autor*innen und Veröffentlichungen lassen sich irgendwo auf diesem Spektrum einordnen, ohne dass eine klare Polarisierung deutlich würde (so könnte Meine et al., 2011 tendenziell eher für die erste, Demirović & Rosa Luxemburg Stiftung, 2018 eher für die zweite Richtung stehen).

Grundsätzlich geht es darum, dass „Entscheidungen darüber, ob, was, wann, wie, wo und von wem produziert wird” von allen von diesen Entscheidungen betroffenen Menschen gefällt werden (Fisahn, 2018, S. 44). Damit „an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch die Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind“ (Vilmar, 1999, S. 4), muss der gesamte Wirtschaftsprozess auf allen Ebenen demokratisiert, d. h. demokratischer Kontrolle und Entscheidungsfindung unterstellt werden. Dazu gehört, dass „Bürgerinnen und Bürger zu ihren fundamentalen Prioritäten” befragt und der „gesellschaftliche[…] Einfluss auf die Unternehmen” gestärkt wird (Foundational Economy Collective, 2019, S. 203).

Wieso wir eine demokratische Wirtschaft brauchen

Mehrere Gründe lassen sich zur Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft anführen. Im Folgenden stelle ich zwei Ansätze unter vielen vor. Die erste Argumentationslinie betrifft den Schutz und den Ausbau der Demokratie an und für sich. Die Demokratie ist demzufolge unvollkommen und deshalb gefährdet, solange sie sich auf die institutionelle Politik begrenzt und die Wirtschaft ausklammert. Diese „halbe Demokratie” ist bedroht (ver.di AG Wirtschaftsdemokratie, 2015, S. 1); retten können wir sie nur, indem wir sie durch eine Ausweitung auf den wirtschaftlichen Bereich vervollkommnen. Wie die Wirtschaft organisiert ist, wer Kapital besitzt und wer die wichtigsten Entscheidungen trifft, was produziert wird und wer daraus Vorteile zieht, ist grundlegend für alle Bereiche in unserem Leben. Weil wir alle davon betroffen sind, ob wir über ausreichende materielle Ressourcen für ein gutes Leben verfügen, das zugleich nicht auf Kosten anderer geht und ökologisch nachhaltig ist, gehört das Wirtschaften ins Zentrum unserer Demokratie (Cumbers, 2020).

Zurzeit ist die Sphäre, die üblicherweise als ‚die Wirtschaft’ bezeichnet wird, politischer Kontrolle jedoch weitgehend entzogen, weil sie als von quasi-natürlichen bzw. mechanistischen Gesetzen bestimmt oder als zu komplex oder sensibel gilt, um so organisiert zu sein, wie ‚die Politik’. Das Ergebnis ist, dass meist eine kleine Elite wirtschaftliche Entscheidungen zugunsten ihrer Interessen trifft (Labour Party UK, 2017). Eine demokratische Wirtschaft erfordert dagegen, Demokratie nicht auf Wahlämter zu begrenzen. Die unverhältnismäßig starken Einflussmöglichkeiten, die sich für die Eigner*innen aus der Konzentration von Kapital und Entscheidungsprozessen über Kapital ergeben, gefährden auch die politische Demokratie selbst (Fisahn, 2018). Eine Stärkung wirtschaftlicher Demokratie würde bedeuten, dass mehr Menschen mitreden könnten und damit ihre vielfältigen Interessen und Bedürfnisse vertreten wüssten (Labour Party UK, 2017).

Dezentralisierte öffentliche Kontrolle über die Ökonomie stellt somit die Basis demokratischer Teilhabe überhaupt dar. Echte Entscheidungsmacht über Kräfte, die das Leben der Menschen direkt beeinflussen, muss ausgeweitet und damit neues Vertrauen in die politische Selbstwirksamkeit gewonnen werden. Dabei geht es um mehr als die Einflussnahme und Regulierung durch gewählte Gremien. Es geht auch um die direkte demokratische Mitbestimmung in Unternehmen durch die Mitarbeitenden und die breitere Bevölkerung (Guinan & Hanna, 2018). Grundsätzlich lässt sich formulieren, dass Ungleichheit und privates Profitstreben schlicht nicht mit einer Demokratie zu vereinen sind, die diesen Namen verdient. Wer sich über die Krise der liberalen Demokratie beschwert, muss auch das ihr zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem in den Blick nehmen, das eine umfassende Demokratie unmöglich macht (Cumbers, 2020).

Eine Frage der Gerechtigkeit

Eine andere Argumentationslinie für Wirtschaftsdemokratie nimmt eine Ausweitung des Gerechtigkeitsbegriffs vor. Neben distributiver, d. h. Verteilungsgerechtigkeit der erwirtschafteten Werte, stärkt eine demokratische Wirtschaft auch die appropriative oder Aneignungsgerechtigkeit. Appropriation bedeutet die Inbesitznahme der Arbeitskraft und/oder der Produkte der eigenen oder fremder Arbeit. Wer die Macht (und das Recht) zur Aneignung (nicht) hat, hängt entscheidend vom Besitz an den Produktionsmitteln ab. Appropriative Gerechtigkeit fordert: “[T]hose who produce the surplus should themselves appropriate it” (DeMartino, 2003, S. 15). Dafür müssen die Arbeiter*innen selbst die Produktionsmittel besitzen, entweder direkt oder über kommunales oder anderes staatliches Eigentum. Bildlich gesprochen genügt es nicht, dass das gebackene Brot gerecht verteilt wird, denn dann würde immer noch die Besitzerin der Bäckerei allein über die Produktion und die Gestaltung eines Großteils der Lebenszeit ihrer Angestellten verfügen. Zudem ist es schwierig, ihren Einfluss zu begrenzen, der wiederum eine gerechte Verteilung erschweren dürfte. Um eine wirklich demokratische Wirtschaft zu realisieren, muss die Bäckerei der Belegschaft selbst gehören. In der Realität ist die Wirtschaft selbstverständlich nicht von kleinen Bäckereien, sondern von großen, häufig multinationalen Konzernen dominiert. Diese müssen wir in ihrer Struktur verkleinern und demokratisieren. Die Bäckerei in der Nachbarschaft gilt es dagegen dauerhaft zu stärken und zu erhalten – und auch hierfür ist eine Demokratisierung der beste Weg.

Mehr zu den unterschiedlichen Formen einer demokratischen Wirtschaft und alle Quellenverweise im zweiten Teil dieser Artikelserie am 13. August.

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