Exit Capitalism: Geschichte der Vergesellschaftung (2/2)
Jan 5, 2024
Credit: Clint Adair via Unsplash.

In diesem Gastbeitrag von Christopher Schmidt veröffentlichen wir in zwei Teilen einen überarbeiteten Auszug aus seinem Buch Vergesellschaftung, Sozialisierung, Gemeinwirtschaft: Transformationspfade in eine andere Gesellschaft, erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot.

Im ersten Teil dieses Blogbeitrags wurde der Begriff der Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung anhand seiner historischen Genese, sowie verschiedener Kategorien alternativer Eigentumsordungen, die in seinem Kontext angestrebt wurden, umrissen. Die Vorstellung davon, wie Eigentum abseits einer auf individuellen Besitz abzielenden Wirtschaftsordnung strukturiert sein soll, gibt allerdings Implikationen für zwei weitere zentrale Spannungsfelder der Vergesellschaftung: die konkreten Formen demokratischer Neuorganisation, sowie die politischen Strategien ihrer Durchsetzung.

Gemeinwirtschaft demokratisch organisieren

Die große Herausforderung der konkreten Organisationsstruktur einer vergesellschafteten (Teil)Wirtschaft ist, dass sie für das Spannungsfeld zwischen kollektiver Planung und Koordination, sowie dezentraler demokratischer Teilhabe praktikable und handlungsfähige institutionelle Lösungen finden muss. Auf der einen Seite stehen dabei die Steuerung und Abstimmung ganzer Industrien und Wirtschaftszweige durch eine Gewalt, die nicht mehr im Namen von Privatpersonen, sondern dem Gemeinwesen wirtschaftet. Diese benötigt polit-ökonomische Institutionen, die eine gesellschaftliche Machtausübung über die Kontrolle der Produktion und Verteilung gewährleisten können und dabei keine Entfremdung hervorrufen (vgl. Wright 2020, 273). Auf der anderen Seite stehen nach Freiheit strebende Individuen und Betriebe, die ständig situativ flexible Entscheidungen zur Lösung ökonomischer, sozialer und ökologischer Probleme treffen müssen und der Kollektivwirtschaft dabei doch stets als tätige Glieder angehören. Konzepte der Vergesellschaftung müssen also fortwährend Wege finden, das Individualbedürfnis mit dem Gemeinwohl produktiv in Einklang zu bringen. Inwiefern solche Lösungen demokratisch legitimiert sind, hängt davon ab, wie inklusiv die Entscheidungs- und Eigentumsstrukturen aufgebaut sind. Inwiefern sie handlungsfähig und produktiv bleiben, hängt dagegen von dem Maß der Durchsetzungskraft oder Autorität in ihren Strukturen ab. Dies stellt ein demokratietheoretisches Dilemma dar, für dessen Austarieren es im konkreten Institutionenaufbau ein Spektrum an Ansätzen gibt, die nachfolgend in idealtypischen Kategorien dargestellt werden sollen.

Kategorie 1: Zentralität als Maxime

Anhänger*innen der Idee, dass eine Überwindung von Ausbeutung und Konkurrenz im Kapitalismus nur durch eine Vollsozialisierung der gesamten Wirtschaft möglich sei, befürworten oft eine starke Zentralisierung der Wirtschaftsgewalt. Der unbedingte Vorsatz dafür war allerdings stets, dass die Staatsmacht in Händen der produzierenden Klasse bzw. der ganzen Gesellschaft liegt. So kann eine Verstaatlichung als Vergesellschaftung gedeutet werden. Betriebe werden zu einem bloßen Vollzugsorgan des zentralen Plans und wirtschaftliche Freiheit weicht der „Einsicht in die wirtschaftliche Notwendigkeit“ (Krüger 2016, 258). Der „Sozialisierung von oben“ wird eine deutliche strategische Priorität gegenüber betrieblichen oder syndikalistischen Demokratisierungsbestrebungen eingeräumt. Gedacht waren diese konzentrierenden Verstaatlichungen im Sinne der marxistischen Theorie jedoch als Durchgangsphase zur Etablierung genossenschaftlicher Produktionsverhältnisse, in denen der Staat schließlich absterben kann und die „Wirtschaft als freie, kooperative Tätigkeit assoziierter Individuen in der Zivilgesellschaft aufgegangen ist“ (Wright 2020, 190).

Kategorie 2: Dezentralität als Maxime

Dem gegenüber stehen Konzepte mit einem Fokus auf eine dezentrale Art und Weise der Vergesellschaftung. Sie argumentieren demokratietheoretisch für ein Primat der Entscheidungsfindung der unmittelbar von ihr Betroffenen. Befürworter*innen entsprechender Ansätze möchten mit ihnen emanzipatorisches Potenzial fördern und Transformationsprozesse des Geistes und der Verhaltensweise von Teilhabenden hin zu solidarischem, genossenschaftlichem Handeln fördern. Sie fokussieren daher auf die betriebliche Ebene und idealtypische Best-Practice-Beispiele. Ein dezentrales System der Vergesellschaftung schließt eine Vollsozialisierung jedoch nicht unbedingt aus, kann aber eben auch im Kleinen z.B. als genossenschaftliche Organisationsform für einen einzelnen Betrieb gelten. Dezentrale Ansätze sehen sich allerdings ebenfalls vor die Problemlage gestellt, das Individualinteresse eines Betriebes mit gesellschaftlichen Bedarfen und dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Sollen sie eine entsprechende Größe erreichen, müssen sie koordinative Strukturen entwickeln, um sich langfristig von einer gewinnmaximierenden Konkurrenzlogik abzugrenzen bzw. mit ihr kompatibel sein zu können, ohne von ihr ausgeschaltet zu werden.

Kategorie 3: Mischformen

Der Großteil der Vorschläge vergesellschafteter Organisationsstrukturen setzt sich allerdings unweigerlich als Mischform dieser beiden Pole zusammen und versucht, möglichst demokratische Lösungen zu finden und sie mit Koordinierungs- und Planungsmechanismen zu versehen, die sie gegen eine Rücküberführung in klassische Markt- und Profitlogiken absichern. Grundlegende Fragestellungen der Institutionenbildung richten sich darauf, welche gesellschaftlichen Gruppen in Partizipationsprozessen auf welcher Ebene vertreten sein sollen, wie sich das Zusammenwirken von politischer und wirtschaftlicher Sphäre gestaltet und – vor allem – wie das Verhältnis vom konkreten Betrieb (und der Mitbestimmung in ihm) zur überbetrieblichen Wirtschaftsordnung und gesellschaftlicher Planung aufgebaut sein soll. Da vor allem der letzte Punkt elementar für eine Vergesellschaftung im größeren Stil ist, standen die Gewerkschaften historisch im Zentrum der Debatte.

Auf dem Weg zur Vergesellschaftung

Die Vorstellungen darüber, wie eine vergesellschaftete Eigentumsordnung konkret zu strukturieren und organisieren ist, um das Diktat der Profitlogik zu beenden oder wenigstens einzudämmen, zog historisch verschiedene Strategien politischen Handelns nach sich. Diese sind grob in den revolutionären Weg, sowie den des schrittweisen Hinüberwachsens in die sozialistische Gesellschaft zu differenzieren.

Der sozialrevolutionäre Weg richtet sich vordergründig gegen den etablierten, nicht-reformierbaren Staat bzw. forderte zuallererst seinen Umsturz und Übernahme als Grundbedingung einer wirksamen Vergesellschaftung. Je nach Denkrichtung kann dieser Umsturz auf zwei Wegen erfolgen. Der Erste fußt auf einem materialistischen Geschichtsbild der Krisentheorie. In diesem führt die Bewusstseinsbildung der proletarischen Masse mittels der Widersprüche ihrer sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu ihrem Aufbegehren gegen ebendiese. Sie kulminiert in der Aneignung des Staates durch das Proletariat als Massenbewegung. Beim zweiten Weg, der als leninistisch bezeichnet werden kann, eignet sich die proletarische Masse den Staat über die Wahl einer avantgardistischen Arbeiterpartei an, die als Trägerin des wissenschaftlichen Bewusstseins fungiert, über das die breite Masse nicht verfügt (vgl. Krüger 2016, 291). Qualitative Unterschiede in der Bewusstseinsbildung verschiedener Akteursgruppen bilden demnach die Basis der Analyse der revolutionären Strategien. Der Revolution folgen zwei Perioden der Vergesellschaftung. Die Erste ist die des Übergangs, die von leninistischen Theoretiker*innen offen als Staatskapitalismus oder als „die niedere Phase der kommunistischen Gesellschaft“ (ebd., 255) bezeichnet wird. Der Staat ist hier der Träger der Produktionsmittel großer Teile der Wirtschaft. Die zweite Periode ist die der wirklichen sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft, in der der Staat schließlich abstirbt und die Menschen frei von Herrschaftsverhältnissen und ökonomischen Knappheitsbedingungen in genossenschaftlichen Strukturen leben können.

Im Gegensatz zu revolutionären Ansätzen ist die Grundidee transformativer Ansätze, dass die Gesellschaft allmählich vom Kapitalismus Schritt für Schritt in den Sozialismus hineinwachsen kann. Sie können in zwei Stoßrichtungen unterteilt werden: die des Sozialreformismus innerhalb des Staates und die des selbstorganisierten Aufbaus außerhalb von ihm.

Der sozialreformistische Weg geht davon aus, „dass der Kapitalismus bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden kann“ (Naphtali 1977, 28). Um dies zu tun, wird neben dem politischen Kampf um Machtausübung im Staat durch sozialistische oder sozialdemokratische Parteien der ökonomische Kampf um Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt durch Gewerkschaften geführt. Zeitgleich werden Aufbau und Ausweitung nicht-profitmaximierender Unternehmensformen, wie z.B. Genossenschaften, vorangetrieben. Nach und nach sollen so gemeinwirtschaftliche Elemente in die Wirtschaft hineingebaut werden, die dem Staat und den Arbeitgeber*innen zunehmend die Kontrolle der Wirtschaft entziehen und die Vorbedingungen für Sozialisierungsmaßnahmen schaffen (vgl. Biechele 1972, 60). Sozialreformistische Denkweisen argumentieren daher für die strategische Vergesellschaftung „sozialisierungsreifer“ Unternehmen wie der Grundstoffindustrie oder großer Monopole, und der parallelen Ausweitung von Verfügungsmacht auf gesetzlichem Wege, statt einer schnellen, grundlegenden Änderung der Eigentumsordnung.

Der zweite transformative Weg von der kapitalistischen Markt- zur Kollektivwirtschaft beschreibt den freiwilligen, selbstorganisierten Zusammenschluss außerhalb des Staates. Die grundlegende Strategie ist die des Aufbaus alternativer Institutionen wie Kooperativen, Genossenschaften oder anderer Formen der Gemeinwirtschaft im Hier und Jetzt. Ziel ist es, ihren Umfang und Tiefgang langsam so zu erweitern, „dass kapitalistische Zwänge aufhören, ihnen verbindliche Grenzen aufzuerlegen“ (Wright 2020, 443). Diese „Sozialisierung von unten“ frei assoziierter Individuen will Modelle eines richtigen Lebens in genossenschaftlichen und nicht-kapitalistischen Formen der Organisation herstellen. Sie sollen gelebte Sozialutopie mit einer Pionierfunktion, und Orte des Bildens eines neuen Bewusstseins und neuer Beziehungen sein, die Perspektiven auf nicht-kapitalistische und herrschaftsfreie Zonen eröffnen. Sie wollen keine bestehenden Strukturen enteignen und umorganisieren, sondern ihre eigenen von vorn herein selbst aufbauen. Es bleibt unklar, inwiefern die strategische Ausweitung solcher bottom-up Konzepte der Vergesellschaftung zum einen Marktzwänge überwinden, und zum anderen organisatorische Antworten für die volkswirtschaftlich wirkmächtige und investitionsintensive Großindustrie und weitere Bereiche der Wirtschaft liefern kann.

Quellen:

  • Biechele, Eckhard (1972): „Der Kampf um die Gemeinwirtschaftskonzeption des Reichswirtschaftsministeriums 1919: Eine Studie zur Wirtschaftspolitik unter Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell in der Frühphase der Weimarer Republik“. Freie Universität Berlin. 1973.

 

  • Krüger, Stephan (2016): „Wirtschaftspolitik und Sozialismus – Vom politökonomischen Minimalkonsens zur Überwindung des Kapitalismus“. Kritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse Band 3. VSA Verlag (2016). Hamburg.

 

  • Naphtali, Fritz (1966): „Wirtschaftsdemokratie – Ihr Wesen, Weg und Ziel“. Europäische Verlagsanstalt (1977). Köln, Frankfurt am Main.

 

  • Wright, Erik Olin (2017): „Reale Utopien – Wege aus dem Kapitalismus“. Suhrkamp Verlag (2020). Berlin.

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