Gastbeitrag: Stahl verstaatlichen?
Mai 30, 2025

Dieser Gastbeitrag von Carlo Kolletzki erschien zuerst im Surplus Magazin. In den nächsten Wochen erscheint an dieser Stelle ein weiterer Artikel des Autors, der beleuchtet, wie eine Vergesellschaftung (im Gegensatz zur Verstaatlichung) des Stahlsektors in Deutschland aussehen könnte.

In einer Sondersitzung des britischen Parlaments wurde Mitte April per Notverordnung der letzte Primärstahlproduzent Großbritanniens unter staatliche Kontrolle gebracht. Doch zeugt die Verstaatlichung durch die Labour-Regierung eher von Planlosigkeit und Aktionismus, statt industriepolitischer Weitsicht. Auch in Deutschland droht derweil die Stahlkrise zu eskalieren. Die zwei Hochöfen im nordenglischen Scunthorpe dürfen nicht ausgehen, so die Prämisse der britischen Regierung, als sie am 12. April in einer Samstagssitzung des Parlamentes zusammenkommt, um per Notfallgesetz die Kontrolle über Großbritanniens letztes Primärstahlwerk zurück zu gewinnen. An einem Samstag kamen beide Kammern des britischen Parlamentes zuletzt zum Ausbruch des Falklandkrieges 1982 zusammen. Das zeigt die Bedeutung, die dem Stahlwerk im Vereinigten Königreich beigemessen wird.

Das Notfallgesetz, noch am Samstagabend von König Charles III. unterschrieben, erlaubt der britischen Regierung, die Verfügungsgewalt über das Stahlwerk zu erlangen. Die Regierung kam zu dem Schluss, dass das chinesische Management die Hochöfen mit Absicht ausgehen lassen wollte, um den Weiterbetrieb finanziell unmöglich zu machen. Denn ist der Ofen nach 10 bis 20 Jahren Lebensdauer, der sogenannten Ofenreise, erstmal aus, ist er für immer aus. Über die Beweggründe des chinesischen Unternehmens kann nur spekuliert werden. Die Hausausweise des chinesischen Managements wurden gesperrt, mit Polizeikräften wurden sich verschanzende Unternehmensleiter vom Werksgelände eskortiert. Mutmaßlich wurde sogar erwogen, die Royal Navy einzusetzen, um zum Weiterbetrieb dringend notwendige Kohle und Erz vom Hafen zum Werk zu geleiten. Zuvor drehten Frachtschiffe aus Australien auf halber Strecke um, da Rechtsstreitigkeiten um das Eigentum der geladenen Kohle zwischen China und Großbritannien entbrannten. Jetzt steht die Rohstoffversorgung des Werkes wohl wieder. Gerade rechtzeitig, bevor die Hochöfen aus betriebswirtschaftlichen Gründen geschlossen werden sollten.

Verstaatlichung in letzter Sekunde

Natürlich fordern Belegschaft und Gewerkschaft von Labour die Rettung der 2.700 Arbeitsplätze, die existenziell für die nordenglische Region sind. Es wird aber auch immer wieder argumentiert, dass Großbritannien nicht die Möglichkeit verlieren dürfe, Primärrohstahl aus Eisenerz herzustellen – nicht zuletzt für die Rüstungsindustrie. Das Vereinigte Königreich will nicht als einziger G7-Staat ohne eigene Primärstahlproduktion dastehen. Kein Wunder also, dass Keir Starmer das »Gesetz im Nationalen Interesse« sieht. Aber: Nun sind Milliardeninvestitionen notwendig, um das Werk wieder rentabel zu machen. Nach Angaben des chinesischen Eigentümer Jingye Group machte der Hochofenbetrieb 800.000 Euro Verluste – pro Tag. Die Regierung hatte dem Eigentümer etwa 600 Millionen Euro zur Restrukturierung angeboten. Der wollte mehr, entschied sich aber dann offensichtlich dazu, den Betrieb ganz einzustellen. Nun sucht die Regierung nach Investoren – bislang erfolglos.

Anfang Januar dieses Jahres wurde in Großbritannien ein Stahlrat gegründet, der sich mit der Zukunft der krisengeschüttelten Branche befassen sollte und mit etwa drei Milliarden Euro Budget ausgestattet wurde. Doch anstatt in eine breite gesellschaftliche Debatte über die beste Verwendung dieses Geldes zu treten, wurden jetzt Fakten geschaffen, die die bereitgestellte Summe schnell aufbrauchen könnten.
Verstaatlichung scheint die einzige Option zu sein. Schon von einer möglichen ganzen Welle der Verstaatlichung wird gesprochen: Auch bei den privatisierten Wasserversorgern sowie im Schienenverkehr wird der Investitionsstau zunehmend untragbar. Verstaatlichungs-Druck kommt auch von einer anderen Seite: Großbritanniens Rechte »Reformer« machen den Klimaschutz verantwortlich für die Krise und ihr Anführer Nigel Farage fordert laut ihre »Nationalisierung«. Dass der Klimaschutz für die Krise verantwortlich sei, ist ebenso Unsinn wie die weit verbreitete Mär, nur im Hochofen ließe sich Qualitätsstahl herstellen. Was Labour und die Konservativen im Vereinigten Königreich eint: Nostalgie und Militarismus. Doch das sind keine guten industriepolitischen Ratgeber. Nostalgie verhindert Fortschritt. So werden die Chancen nicht gesehen, die sich mit Elektrostrahl und Recycling ergeben. Und der Versuch, sich über AufrüstungWachstum zu verschaffen, ist kurzsichtig und gefährlich. Die Rüstungsindustrie ist per Definition unproduktiv und konsumistisch. Waffen und Munition liegen im besten Fall im Arsenal, wartend auf den Krieg, und im schlimmsten Fall werden sie eingesetzt und reißen Menschen in den Tod. Volkswirtschaftlich nüchtern drückt sich das aus in einem niedrigen Multiplikatoreffekt. Einen dauerhaften Aufschwung der Rüstungsindustrie kann sich eigentlich niemand ernsthaft wünschen. Weder im Vereinigten Königreich, noch sonst wo.

Vorbild für Deutschland?

Ähnliche Debatten könnten in Deutschland folgen, vermutlich schon sehr bald. Auch die deutsche Stahlindustrie steckt in einer tiefen, doppelten Krise: konjunkturell und strukturell. Die Nachfrage-Krise der Stahlindustrie ist global und wird durch Handelskonflikte aktuell nochmal drastisch verschärft. Auch hierzulande schreibt kein Stahlproduzent schwarze Zahlen. Große Investitionsentscheidungen von internationalen Konzernen wie Arcelor Mittal und dem Thyssenkrupp-Investor EPCG stehen noch aus. Schon getätigte Investitionen werden in Frage gestellt. Es scheint, die Branche warte ab, bis einer fällt und für den Rest mehr Luft zum Atmen bleibt. Sollte also auch in Deutschland die Stahlindustrie verstaatlicht werden?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Ausgangssituation zwischen UK und BRD durchaus unterschiedlich ist. Eine politisch forcierte Deindustrialisierung wie unter Margret Thatcher in den 1980er Jahren hat es in Deutschland so nicht gegeben. Hier wurde eher durch eine Ausweitung des Niedriglohnsektors versucht, die Industrie zu halten. Mit dem Ergebnis, dass in Deutschland noch 24 Prozent der Wertschöpfung aus dem verarbeitenden Gewerbe kommt, in UK nur noch 17 Prozent. In Deutschland gibt es aktuell noch 14 aktive Hochöfen zur Eisenproduktion. Doch es sind bereits immense Summen geflossen, um die klimaschädliche und unprofitable Hochofenflotte nach und nach zu ersetzen: Mehr als sieben Milliarden Euro Subventionen sollen Erneuerungs- und Ausrüstungs-Investitionen in doppelter Höhe auslösen. In drei von vier Primärstahlstandorten sind bereits die Bagger angerückt und es wird aktiv an der Erneuerung der Produktionsanlagen gebaut. Das ist ein enormer Vorteil gegenüber den Standorten im Vereinigten Königreich, die sich bislang nur sehr zaghaft für neue Investitionen aussprachen. »Die Stahlproduktion im Vereinigten Königreich istseit den 70er Jahren rückläufig und in der ganzen Welt werden Hochöfen abgebaut. Der Unterschied ist, dass andere Länder in neue, sauberere und effizientere Kapazitäten investieren«, fasste der britische Industrie-Analyst Laith Kharus Whitwham zusammen.

Und auch die Eigentumsstrukturen unterscheiden sich stark. Während in Deutschland schon teilweise Stiftungsmodelle und Landesbeteiligungen in den Unternehmen stecken, verscherbelte Boris Johnson British Steel an einen chinesischen Stahlriesen. Doch auch beim Duisburger Stahlprimaten Thyssenkrupp Steel hält sich der tschechische Investor Křetínský offen, zum Mehrheitseigner zu werden. Gestritten wird noch um die Ablösesumme von der Mutterholding, dessen Aktienwert sich dank der Reform der Schuldenbremse und dem allgemeinen Rüstungsboom zuletzt verdreifacht hat. Schon jetzt plant Thyssenkrupp einen Abbau der Produktionskapazitäten und Beschäftigten um etwa 40 Prozent. Neue Hiobsbotschaften über Werksschließungen könnten auch die neue Bundesregierung unter Druck setzten und vor dieselbe knifflige Frage stellen, wie die britische Regierung: Sollen wir eine sterbende Industrie um jeden Preis retten?

Verstaatlichung nicht um jeden Preis

Der Ökonom Dani Rodrick stellt fest, dass über den Erfolg der Industriepolitik entscheiden wird, welche Branche man bereit ist gehen zu lassen. Einen Blankoscheck, wie es die Labour-Regierung jetzt für ein ineffizientes und unmodernes Stahlwerk im Begriff ist auszustellen, ist weder industrie-, noch arbeitsmarktpolitisch sinnvoll. Ein solches Handeln würde zu Erpressungsversuchen von Eigentümern und Investoren geradezu einladen. Anstelle von Panik-Rettungsaktionen und überstürzten Handlungen besteht vielmehr die Notwendigkeit einer langfristigen industriellen Planung. Es braucht eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie viel eigene Stahlproduktion wir wirklich brauchen. Dabei müssen volkswirtschaftliche und Beschäftigungsaspekte berücksichtigt werden, aber natürlich auch der klimapolitischen Notwendigkeit der Transformation ins Auge gesehen werden. Es müssen früh und realistisch alle Optionen auf den Tisch, bevor es zu spät ist und wir wie im Vereinigten Königreich im Panik-Modus Entscheidungen treffen. Eine Abwägung der Möglichkeiten über eine zukunftsfähige Stahlindustrie in Deutschland muss sowohl den Erhalt eigener Eisenproduktionaus erneuerbarem Wasserstoff als auch den Import von klimafreundlichem und günstigerem Eisen sowie eine Erhöhung des Anteils der Recyclingstahlproduktion aus dem Elektroofen beinhalten. Das ginge auch mit einer geschickten Kombination aus Investitions-Anreizen und Ordnungspolitik – ganz ohne Verstaatlichung. Subventionen und Energie-Hilfen müssten dann aber auch gezielt an Transformationsanforderungen und Standortbedingungen geknüpft werden. Zudem gehören ein international koordinierter Abbau der globalen Überkapazitäten und der damit verbundenen Ressourcenverschwendung und des Konfliktpotentials zu den drängenden Aufgaben, die sich nicht durch einfache Verstaatlichung lösen lassen.

Vielleicht ist Verstaatlichung aber auch ein Teil der Lösung, vielleicht ist sie in Teilen sogar unabwendbar, um Standorte und Beschäftigung zu sichern. Vielleicht kann eine intelligente Verstaatlichung auch den Profitdruck mildern, dem Privatkonzerne ausgesetzt sind. Wenn wir uns als Gesellschaft aber dafür entscheiden zu verstaatlichen, dann nicht als Bail-Out für Privatkonzerne, um ihre Verluste zu sozialisieren. Wenn wir verstaatlichen, dann sollten wir es nicht dabei belassen. Dann müssen wir als Gesellschaft auch beherzt in unsere Zukunft investieren und nicht versuchen, die Vergangenheit zu konservieren. Wenn wir schon verstaatlichen, dann sollten wir auch vergesellschaften und den Entscheidungsprozess über die Zukunft des deutschen Stahlstandortes demokratisieren.

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