Gastbeitrag: Vergesellschaftung ist feministisch: Die Sorge(n) vergesellschaften – aber wie? Teil 2
Apr 6, 2023

Gastbeitrag von Nadine Gerner. Warum Sorgearbeit vergesellschaftet werden muss und wie Vergesellschaftung als eine feministische Transformationsstrategie aussehen kann, dazu schreibt Nadine Gerner im Anschluss an die Vergesellschaftungskonferenz in Berlin und die „Sorgende Stadt“ Konferenz in Bremen.

Dies ist der zweite Teil des Textes. Der erste Teil ist am 30.03.2023 erschienen und hier zu finden.

 

 

Care vergemeinschaften: Commoning und caring communities

Um die derzeitigen gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse umzuwälzen, braucht es nicht nur eine Veränderung der materiellen Bedingungen, unter denen sie stattfinden, sondern auch eine neue gelebte Praxis: Eine Praxis von Sorgearbeit, die nicht vergeschlechtlicht, migrantisiert und rassifiziert ist, sondern Sorgeverantwotung gerecht verteilt. Ein Ausprobieren solcher Praktiken findet bereits in sogenannten commoning Praktiken – also einer gemeinschaftlichen, selbstverwalteten Organisation bestimmter Tätigkeiten statt. Im politischen Kontext der Finanzkrise und der 15M-Bewegung in Spanien entstand im Viertel Poble Sec in Barcelona z.B. eine selbstorganisierte, vergemeinschaftete Form der Kinderbetreuung. Die Soziologin Manuela Zechner teilte ihre Forschungsarbeiten und gelebten Erfahrungen hierzu bei der Vergesellschaftungskonferenz in Berlin. Das Commoning von Kinderbetreuung bestand dabei aus drei verschiedenen Ebenen. Zum einen das lokale Vernetzen unter Müttern, begonnen in Form von Whats-App-Gruppen und lokalen solidarischen Wirtschaftsweisen. Weiter fand ein Aufbau von selbstorganisierten Care Infrastrukturen – ähnlich wie Kindergärten – statt. Schließlich gliederte sich dieses Commoning in die kommunalen munizipalistischen Politiken von Barcelona en Comú ein und wurde durch diese abgesichert. Zechner bezeichnet dies als Ökosystem von Care in Form von Kindererziehung und betrachtet Commons mehr als einen Prozess und verwobene soziale Beziehungsgefüge. Damit sind Commons in der Lage, die rigide Trennung von mikro- und makropolitischen Ansätzen zu transzendieren und fungieren als „social-familial-local ecosystems that try to weave spatialities and temporalities of care together responsively, supporting one another in the daily struggle to extend lives and families beyond the nuclear and individualist paradigm.

Auch in sogenannten Sorgenden Gemeinschaften finden sich Commons und Praktiken des commoning wieder. Bei der „Sorgende Städte“-Konferenz erinnert der Soziologie Mike Laufenberg an das Zusammenspiel von solidarischen Care Beziehungen und gemeinschaftlichen Care Praktiken, mit Direkten Aktionen und Kämpfen der Sozialen Bewegung zu Zeiten der Aids-Krise. Er betont hier ähnlich wie Zechner die Verknüpfung und das ‚Eingebettet Sein‘ Sorgender Gemeinschaften in Soziale Bewegungen, die damit ihr emanzipatorisches Potential bewahren. So war auch der Aufbau sogenannter Caring Commons in Poble Sec nicht nur die Erfahrung einer (Re)politisierung von Reproduktiver Arbeit wie Kindererziehung, sondern auch von Erfahrungen der kollektiven Wirksamkeit und des kollektiven Machtaufbaus geprägt. Durch die Schaffung neuer kollektiver Care Infrastrukturen und Beziehungsgefüge konnte nicht nur den damaligen Krisen begegnet werden, sondern auch langfristige Sorgestrukturen entstehen. „Es geht um die Veränderung, die passiert, wenn Menschen zusammenkommen, um ein Commons (z. B. eine solidarische Landwirtschaft, eine Poliklinik, ein inklusives Wohnprojekt) bedürfnisorientiert und ohne Geld-, Wachstums- und Verwertungslogik zu gestalten“. Damit öffnen Praktiken des commoning ein Möglichkeitsfenster um neoliberalen Subjektivierungsweisen und binären Geschlechterkonstruktionen etwas entgegenzusetzen, da sie ein Experimentierfeld für anti-patriarchale und antirassistische Praktiken darstellen. Außerdem findet in caring communities und commoning Praktiken ein Erproben von Selbstorganisierung und demokratischen Prozessen statt. Es entsteht die Möglichkeit für nachhaltige Organisierung und Politisierung der Akteur*innen und schafft Räume, in denen eine gesteigerte Wertschätzung für Care-Arbeit real wird.

Commoning und caring communities fungieren neben dem Munizipalismus als eine Antwort auf die Frage, wie feministische Vergesellschaftung jenseits von Markt, Staat und Privathaushalten aussehen kann und zu erreichen wäre. Eine zentrale Herausforderung, die während der Vergesellschaftungskonferenz und der Sorgende Städte Konferenz laut wurde, ist, wie die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen gelingen kann, ohne sich vom Kapital vereinnahmen, gar ausbeuten zu lassen.

Sorgen, die bleiben: Hürden und Fallstricke

Eine Ambivalenz von Caring Communities, Commons Ansätzen oder auch munizipalistischen Initiativen sind die Gefahren der Ko-Optation und Enteignung von Care Ressourcen durch den kapitalistischen Staatsapparat, der Reproduktion reguliert, steuert und ordnet. Der oben bereits erwähnte Soziologe Laufenberg thematisierte den Staat und die Familie als Herrschaftsverhältnis, welches eine privatisierte und naturalisierte Organisierung von Care hervorbringt. Problematisch ist, dass Caring communities neben Frauen und anderen marginalisierten Gruppen, oftmals die (Sorge-) Lücken füllen, wenn die existierenden institutionell bereitgestellte Formen und Strukturen nicht ausreichen: Je weniger Personen als Hausfrauen zur Verfügung stehen, desto mehr Sorgelücken gibt es zu füllen. Dass an dieser Stelle dann meist migrantisierte, rassifizierte und prekär angestellte weibliche oder weitere marginalisierte Personen für weiße Mittelstands Frauen einspringen oder Freiwillige den professionellen Care Arbeiter*innen unter die Arme greifen, ist eine Entwicklung des Kapitalismus. Die Soziologin Tine Haubner zeigte auf der Konferenz in Bremen, dass das Kapital nicht vor der Indienstnahme der Ressource Gemeinschaft zurückschreckt. In einem Forschungsprojekt gemeinsam mit Silke van Dyk, weist sie auf die Herausbildung eines Community Kapitalismus als eine gesellschaftliche Formation hin, die im Zuge der Neoliberalisierung und Ökonomisierung entstand. Sie zeigen, dass der Kapitalismus auf eben jenes zivilgesellschaftliches Engagement jenseits des Marktes und der Familie angewiesen ist, um die Sorgebedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Haubner beobachtet eine zunehmende Verzivilgesellschaftlichung besonders im Bereich der Care Arbeit, die das freiwillige Tätigsein, utopisiert anstatt es als unentlohnte und prekäre Arbeit sichtbar zu machen. Gerade im Bereich der Care Arbeit ist Freiwilligkeit ein Fallstrick und führt zu Ausschlüssen: wen pflege ich gerne freiwillig, und wer kümmert sich um diejenigen, die übrig bleiben?

Vergesellschaftung geht nicht ohne Arbeitszeitverkürzung

Die Lohnarbeit fungiert als eine Institution, die es Menschen erlaubt sich zu reproduzieren und mit der Gewährleistung von Daseinsvorsorge (z.B. Wohnen und gesundheitliche Versorgung) verknüpft ist. Die Lohnarbeit von Existenzsicherung zu entkoppeln, stellt somit ein weiteres feministisches Ziel dar, welches materialistische Feminist*innen wie Mariarosa dalla Costa in den 70ern bereits einforderten: „Wer behauptet, daß die Befreiung der Frau der Arbeiterklasse darin liegt, eine Arbeit außerhalb des Hauses zu finden, erfaßt nur einen Teil des Problems, aber nicht seine Lösung. Die Sklaverei des Fließbands ist keine Befreiung von der Sklaverei des Spülbeckens.“ Auch Gabriele Winker formuliert Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit als einen Pfeiler ihrer Care Revolution: „Um der Abwertung und Überbeanspruchung der unentlohnten Sorgearbeit sowie der Stoffkreisläufe im Kapitalismus zu begegnen, muss die Trennung der gesellschaftlichen Arbeit in entlohnte und unentlohnte Arbeit beendet werden […] entlohnte Arbeit [sollte] zurückgedrängt und […] unentlohnte Arbeit verallgemeinert werden“. Auch feministische Ökonom*innen aus dem Degrowth Spektrum sowie des Konzeptwerk Neue Ökonomie sehen Arbeitszeitverkürzung als einen Hebel zur Umverteilung von Zeit, Einkommen, Macht und Ressourcen. Nur mit einer Umverteilung der Lohnarbeit, kann die freigewordene Zeit, zur Demokratisierung und Verallgemeinerung von unentlohnter Arbeit genutzt werden.

Erst Care vergesellschaften, dann Care Revolution

Im Nachgang an die „Sorgende Städte“-Konferenz hallt folgende Forderung nach: Wenn Vergesellschaftung als eine linke feministische Strategie fungieren soll, muss auch das Verhältnis zwischen Sozialen Bewegungen und Institutionen ernst genommen werden. Das heißt linke feministische Bewegungen müssen neben reformistischen Forderungen oder ‚revolutionärer Realpolititik‘ an rebellischem Engagement oder ‚radical care‘ festhalten und emanzipatorische Projekte verteidigen, da sich Letztere weniger leicht vereinnahmen lassen. Jene Orte der Fürsorge, an denen solidarische Beziehungen im Hier und Jetzt kollektiv gelebt werden können, sind keineswegs der Endpunkt eines feministischen Transformationsprojekts. Commoning Projekte als eine Form der Vergesellschaftung können in die Breite ausscheren, wachsen und vernetzen. Zugleich müssen sie institutionell abgesichert und eingerahmt werden, ohne sich vereinnahmen zu lassen, sodass sie sich weiter entfalten und gestärkt werden können. Die Vision „Sorgender Städte“ ist ein Ansatz, der nicht in Reformen stecken bleiben will, sondern im wahrsten Sinne des Wortes das Terrain der Kämpfe räumlich wie kräftemäßig zu erweitern sucht. 

Feministische Vergesellschaftung hat das Potential, die Sorgearbeit nicht nur raus aus den privaten Räumen, sondern auch raus aus der privaten familiären Verantwortung zu nehmen. Damit greift Vergesellschaftung einen soliden Pfeiler der kapitalistischen Arbeitsteilung an: die heterosexuellen Kleinfamilien, die Sorgearbeit in den Haushalten leisten. Vergesellschaftung könnte ebenfalls der Auslagerung von Sorgearbeit sowie der Ausbeutung prekärer Arbeitskräfte entgegenwirken und damit ebenfalls die rassifizierte und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung ins Wanken bringen, denn Sorge in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen, entzieht dem profitgetriebenen und patriarchalen System die (Über)Lebensgrundlage.  

Literatur / Zum Weiterlesen:

Dalla Costa, M. R. (1973). Die Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. S. James (Hg.): Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin/W.

Dengler, C., & Lang, M. (2022). Commoning care: feminist degrowth visions for a socio-ecological transformation. Feminist Economics, 28(1), 1-28.

Ezquerra, S. & Keller, C. (2022). Für eine Demokratisierung der Sorgearbeit. Erfahrungen mit feministischen Care-Politiken auf kommunaler Ebene in Barcelona. ONLINE-Studie 3/2022. Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Fried, B. & Wischnewski, A. (2022). Sorgende Städte.

Knobloch, U., Theobald, H., Dengler, C., Kleinert, A. C., Gnadt, C., Lehner, H., & im Wandel, A. (2022). Caring Societies–Sorgende Gesellschaften.

Toupin, L. & Friederike Beier (Hg.). (2022). Lohn für Hausarbeit. Chronik eines internationalen Frauenkampfs (1972–1977). Münster. Unrast Verlag.

Treu, N. & Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hg.). (2023). Bausteine für Klimagerechtigkeit. Arbeitszeitverkürzung.

Wichterich, Christa (2017): Viele Orte überall: Care-Logik in Alternativen Projekten und Potentiale von Gegenmacht. In: Feministische Studien 35, H. 2, S. 259–275.

Winker, G. (2021). Solidarische Care-Ökonomie: Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. transcript Verlag.

Zechner, M. (2021). Commoning care and collective power. Manuela. Childcare Commons and the micropolitics of Municipalism in Barcelona. Transversal texts.

Zechner, M. & Rübner Hansen, B. (2019) ‘Extending the family,’ In: Harvie, Barbagallo and Beuret (Eds.) Commoning with Silvia Federici and George Caffentzis. New York/London: Pluto Press.

 

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