Vergesellschaftung im Grundgesetz – Teil 2
Jan. 27, 2025

Georg Freiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit Fragen der Vergesellschaftung, Wirtschaftsverfassung und Ökologie. Er ist am Energieprojekt von communia in beratender Funktion beteiligt. Im ersten Teil ging es um die Entstehungsgeschichte des Vergesellschaftungsartikels.

Artikel 15 wurde bisher noch nie angewandt. Das liegt sicherlich in erster Linie an politischen Machtverhältnissen. Aber auch aus juristischer Sicht gibt es einige spannende Debatten und ungeklärte Fragen. Kannst Du kurz umreißen, welches die zentralen Streitpunkte sind?

Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont. Nach dem Bundesverfassungsgericht legt sich das Grundgesetz auf kein Wirtschaftsmodell fest, sondern überlässt die Aus- und Umgestaltung dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen frei entscheiden kann. An dieser Stelle setzen jedoch die verfassungsrechtlichen Unklarheiten ein: Was sind die verfassungsrechtlichen Grenzen des Artikel 15, welcher wie kein anderer Artikel die Wirtschaftsoffenheit verkörpert und absichert? Diese Unklarheiten kristallisieren sich in drei zentralen Streitpunkten: Welche Eigentumspositionen können vergesellschaftet werden? Unterliegt die Maßnahme dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz? Und welche Entschädigung steht den Eigentümer*innen zu?

In Artikel 15 wird die Möglichkeit vorgesehen, „Produktionsmittel“ zu vergesellschaften. Manche Stimmen in der Rechtswissenschaft vertreten mit Verweis auf die bereits dargestellten historischen Vergesellschaftungsdebatten die Ansicht, nur die Schlüsselindustrien der Nachkriegsjahre, sprich die produzierenden Industrien, seien vergesellschaftungsfähig. Auf der anderen Seite steht die Ansicht, dass alle am volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsprozess beteiligte Eigentumsobjekte „Produktionsmittel“ im Sinne des Artikel 15 seien. Die Vergesellschaftung sollte nach Willen des Verfassungsgebers eine strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsordnung ermöglichen. Eine solche Umwandlung bedeutete 1949 zwar die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien. In unserem heutigen Wirtschaftssystem sitzen die zentralen Schaltstellen jedoch vielmehr im Dienstleistungssektor. Auch dieser müsse also unter das Wort „Produktionsmittel“ fallen, damit Artikel 15 auch in unserer heutigen Zeit noch seine Aufgabe erfüllen kann.

Die systematische Stellung des Art. 15 ist von dem Gedanken getragen, daß die Überführung in Gemeineigentum, also roh ausgedrückt Sozialisierung oder ähnliche Maßnahmen —, nicht als Sonderfall der Individualenteignung zu gelten hat, sondern als etwas anderes, nämlich als strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung.“ – Carlo Schmid am 7.10.1948 im Grundsatzausschuss, Der Parlamentarische Rat, Band 5, S. 213 f.

Ob Artikel 15 Grundgesetz einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegt oder nicht, ist eine sehr technisch-juristische Frage, in der Rechtswissenschaft jedoch von großer Bedeutung. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz soll die Machtausübung des Staates mäßigen und ihn insbesondere dazu anhalten, das mildeste zur Verfügbarkeit stehende Mittel zu wählen, um seine Ziele zu erreichen. Dieser Grundsatz wird häufig so interpretiert, dass der Staat mildere Mittel ergreifen müsse, bevor er auf die Möglichkeit des Eigentumsentzugs durch Vergesellschaftung zurückgreife. In der politischen Debatte zu Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) zeigt sich diese Ansicht in dem Argument, durch Enteignungen werde keine einzige neue Wohnung gebaut. Also das marktkonforme Mittel des Wohnungsneubaus als milderes Mittel zur Vergesellschaftung. Auch wenn dieses Argument von der Expert*innenkommission entkräftet wurde, hat es noch immer viel politische Sprengkraft. Wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf Artikel 15 angewendet, so verändert dies die wirtschaftspolitische Konzeption des Grundgesetzes zugunsten der Privatwirtschaft und des Privateigentums. Die Privat- und Gemeinwirtschaft stünden nicht mehr gleichberechtigt nebeneinander, sondern die Privatwirtschaft wäre dann der verfassungsrechtliche Normalfall, von dem nur im rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmefall abgewichen werden darf. Aus der wirtschaftsneutralen Verfassung würde so eine Verfassung der Privatwirtschaft.

Die Frage nach der Entschädigungshöhe einer Vergesellschaftungsmaßnahme hat große Auswirkungen auf die politische Umsetzbarkeit solcher Vorhaben. Einerseits wird vorgetragen, die Entschädigung müsse sich grundsätzlich an dem Marktwert der Sozialisierungsobjekte orientieren, weil die Eigentümer*innen in ihren wirtschaftlichen Interessen geschützt werden sollen. So entstehe außerdem eine „Sozialisierungsbremse“, welche Vergesellschaftungsvorhaben eindämmen solle. Auf der anderen Seite wird eine Entschädigung unter Marktwert für möglich angesehen. Demnach setzt die Vergesellschaftung gerade strukturell an und möchte die Marktlogik überwinden. Es erscheine aus diesem Grund widersprüchlich, den marktwirtschaftlich ermittelten Preis an die Eigentümer*innen zu zahlen. Anhand von DWE sehen wir, dass gewisse preisbildende Faktoren auf Verknappungseffekte, Bodenspekulation und die zunehmende Finanzialisierung der Wohnraumwirtschaft zurückzuführen sind. Eben diese Faktoren will die Initiative eindämmen und sieht es als unbillig an, sie in der Entschädigungssumme zu reflektieren.

Was bedeuten diese Debatten für die Frage, was der Vergesellschaftungs-Artikel kann?

Das ist abstrakt nur schwer zu beantworten und kommt auf das konkrete Vergesellschaftungsvorhaben an. Das Bundesverfassungsgericht sieht im Grundgesetz eine Verfassung, welche die personalen Funktionen des Privateigentums besonders schützt und dafür gesellschaftlich relevantes Privateigentum in einem besonderen Maße in die Ausgestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers gibt. Meiner Meinung nach wird der Gipfel dieser Ausgestaltungsmacht mit Artikel 15 erreicht, welcher „Grund und Boden, Produktionsmittel und Naturschätze“ für die Vergesellschaftung freigibt. Diese Eigentumspositionen sind typischerweise im besonderen Maße sozial gebunden und deshalb konsequenterweise verfassungsrechtlich geringer geschützt als Eigentumspositionen, die unmittelbar der persönlichen Lebensgestaltung dienen. Hierfür spricht auch die Sozialbindung des Eigentums in Artikel 14 Absatz 2, wonach Eigentum „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit“ dienen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in vielen Entscheidungen betont, dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel besonders sozial gebunden sind. Dadurch, dass der Katalog der Sozialisierungsobjekte auf diese gesellschaftlich besonders relevanten Eigentumsobjekte beschränkt ist, und die Vergesellschaftung nur Gemeineigentum oder anderen Formen der Gemeinwirtschaft schaffen darf, sind die Grenzen einer Vergesellschaftung bereits sehr eng gezogen und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung darüber hinaus nicht nötig. Das deckt sich auch mit dem historischen Willen des Verfassungsgebers. Da es bei der Vergesellschaftung auch um eine Überwindung der privatwirtschaftlichen Marktlogik geht, muss sich eine Entschädigung meiner Meinung nach auch nicht am Marktwert orientieren. Unterschiedliche Wirtschaftsmodelle haben nun mal unterschiedliche preisbildende Faktoren. Wer gemeinwirtschaftliche Ideen umsetzen will, muss deshalb nicht zu Preisen entschädigen, die sich beispielsweise aus Verknappung, Spekulation, Marktbeherrschung, Finanzialisierung oder der Ausbeutung von Menschen und Umwelt ergeben. Dem Gesetzgeber steht es meiner Meinung nach frei, solche Preisfaktoren herauszurechnen. Es gibt viele andere Berechnungsmodelle, die ich für überzeugender halte und die eine gerechte Kompensation für Eigentümer*innen sicherstellen.

Im dritten und letzten Teil des Interviews, das in zwei Wochen erscheint, geht es um den Unterschied zwischen Vergesellschaftung und Enteignung.

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