Von der Besetzung zur Fabbrica Pubblica
Nov. 3, 2025

Eva Gaßen stellt in einem zweiteiligen Gastbeitrag den Kampf um die Vergesellschaftung der ex-GKN-Fabrik in Norditalien vor. Im zweiten Teil wird es um die aktuelle politische Situation gehen. 

Was hat es mit dieser Fabrikbesetzung auf sich und wer steckt dahinter?

Seit über vier Jahren macht eine ehemalige GKN-Fabrik aus der Automobilzulieferindustrie in Campi Bisenzio, in der Nähe von Florenz, von sich reden. Denn die Arbeiter*innen haben ihre Fabrik nach dem rechtswidrigen Kündigungsversuch am 9. Juli 2021 bis zur rechtswirksamen Kündigung zum 1. April 2025 mit einer dauerhaften Betriebsversammlung besetzt. Trotz anderthalb Jahre unbezahlter Löhne führen sie diese Besetzung nun auch ohne Anstellung fort. In diesen vier Jahren des intensiven Arbeitskampfes haben sie ein Netzwerk der Solidarität aufgebaut, soziale Bewegungen zusammengeführt und einen Plan für eine öffentliche, sozial-integrierte Fabrik ausgearbeitet. Was das alles bedeutet, womit sich das Fabrikkollektiv, in dem sich die Arbeiter*innen organisieren, anlegen und wieso diese Fabrikbesetzung in Norditalien ein Wegweiser der Vergesellschaftung ist, wollen wir in diesem Artikel beleuchten.

Vergesellschaftung im rechts-links Konflikt

Zunächst sah der Arbeitskampf in Campi Bisenzio aus wie ein Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze. Und das ist er bis heute. Doch bereits vor der Kündigung am 09. Juli 2021 organisierten sich die Arbeiter*innen zusätzlich zu den Gewerkschaftsstrukturen im collettivo di fabbrica, weil sie sich ihrer Gegnerschaft bewusst waren: sie haben es mit einem multinationalen Konzern und einer neoliberalen Gesetzeslage zu tun, die die soziale und ökologische Sicherheit der Menschen zugunsten privatisierten Profits gefährden. Es geht folglich nicht um die Rettung der Fabrik, denn „es ist nicht eine Fabrik, die schließt, sondern ein System, das Fabriken schließt“ (Beschäftigter2_cdf) – deshalb müsse man das System verändern, wenn man das Problem lösen wolle. Mit dem Arbeitskampf weitete sich das Arbeitsverständnis und umgekehrt: es geht nicht um den Erhalt der bisherigen Arbeitsplätze, sondern um die demokratische Konversion der Produktion hin zu guter Arbeit für ein gutes Leben für Alle. In den Worten von Dario Salvetti – Sprecher der Fabrikkollektivs – hört sich das so an:

Es gibt nur einen Kampf. Für das Leben, verstanden als eine harmonische Fähigkeit, vom eigenen Lohn zu leben, mit eigenen Rechten, der eigenen Zeit. Das Leben ist die Luft, die wir atmen, das Leben ist das Territorium, das wir durchqueren, das Leben ist die Fähigkeit der Leute, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen, aber auch zu entscheiden: Wem nützt deine Arbeit? Welche Welt wird sie hinterlassen? In welcher Welt findet sie statt?“ 

(Salvetti In LABOURNET.TV 2023, min 09:41ff.)

Politisch steht das Fabrikkollektiv mit dieser Kampfansage im rechts-links-Konflikt mit der Meloni-Regierung (seit 2022). Dies äußert sich auch konkret an der Eigentums- bzw. Vergesellschaftungsfrage. Denn der wirtschaftsliberale Kurs der Meloni-Regierung setzt auf den Abbau von sozialen Rechten und ökologischer Nachhaltigkeit – zugunsten der Entfaltung des Privatkapitals. So wurden die Ministerien für sozial-ökologische Transformation und wirtschaftliche Entwicklung umbenannt in das Ministerium für Umwelt und Energiesicherheit (Ministero dell’ambiente e della sicurezza energetica) und das Ministerium der Unternehmen und des Made in Italy (Ministero delle imprese e del Made in Italy). Der Name ist Programm.

Mit der demokratischen Praxis hingegen, mit der das Fabrikkollektiv die Vergesellschaftung der Fabrik vorantreibt, kämpft es auch gegen die rechts-populistische Entwicklung in der Gesellschaft. Denn dem rechten Konzept der Sicherheit, das auf Eigenverantwortung, Konkurrenzfähigkeit und Angst aufbaut, setzt es eine solidarische Beziehungsweise (Mutualismo) und das Konzept einer öffentlichen, sozial-integrierten Fabrik entgegen. Es baut zudem eine soziale und gesellschaftlich getragene Sicherheit aus, indem es auch auf rechtlicher Ebene die Interessen der Arbeiter*innen und Bevölkerung zu verankern versucht. Mit dem Gesetz zur regionalen Entwicklungsgesellschaft (s.u.) z. B. soll es Arbeiter*innen-Initiativen möglich sein, ihre schließenden Unternehmen aufzukaufen. Dies vergesellschaftet die Sorge um die Arbeitsplatzsicherheit, da nicht mehr jeder Einzelne allein dafür Sorge trägt, in Zeiten der Deindustrialisierung Arbeit zu finden, sondern die Politik/Verwaltung die gesellschaftliche Verantwortung für eine „Reindustrialisierung“ übernimmt.

Ihren Arbeitskampf führen sie zudem mit einer anti-faschistischen Haltung, die in der Toskana stark ausgeprägt ist. So wählte das Fabrikkollektiv den aus der Partisanenbewegung gebräuchlichen Aufruf insorgiamo („erheben wir uns“) als Namen für ihre Bewegung:

#insorgiamo ist ein Motto der Partisanen. Ein Motto der Würde, wenn du realisierst, dass ein dunkles Zeitalter enden muss. Wenn du realisierst, dass die (politische) Gleichgültigkeit, der Individualismus, die Passivität ein Luxus sind, die du dir nicht mehr erlauben kannst.

(Facebook Collettivo Di Fabbrica 2024, 23.03.2022, eigene Übersestzung).

Mit der Vergesellschaftung gegen die Willkür des Eigentums

Um eine Perspektive für den Produktionsstandort und ihre Arbeitsplätze zu schaffen, haben sich die Arbeiter*innen selbst in die Lage versetzt, gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und anderen Unterstützer*innen einen Industrieplan zu entwickeln. Nachdem weder die Politik bereit war, die Fabrik zu verstaatlichen und die Schirmherrschaft über die demokratische Produktion zu übernehmen, noch der Eigentümer Anzeichen gemacht hat, einen Produktionsplan aufzunehmen, hat das Fabrikkollektiv eine Genossenschaft gegründet. Die Gründung der Genossenschaft GFF (GKN for future) setzt dem privaten Eigentumsmodell eine vergesellschaftete Form der Produktion entgegen. Die Entscheidungskompetenzen sollen zu 2/3 bei den Mitarbeiter*innen und zu 1/3 bei externen Anteilseignern liegen. Dabei soll das Mitspracherecht der (auch internationalen) Anteilseigner, wie z. B. Bewegungsakteure und interessierte Einzelpersonen, einerseits die Funktion erfüllen, über die selbstverwaltete Fabrik zu sprechen und dieses Modell der demokratischen Wirtschaftsweise weiterzuverbreiten. Andererseits sollen sie als gesellschaftliches Korrektiv dienen, um die Gefahr abzufangen, dass die Fabrik von profitablen Eigeninteressen verleitetet wird – denn auch die Genossenschaft bleibt in einem kapitalistischen Wettbewerb verortet.

Im Zentrum steht die öffentliche, sozial-integrierte Fabrik, die als wirtschaftlich und sozial prägender Akteur in der Region verstanden werden soll. Denn sie prägt nicht nur als Produktionsstätte den Ort, sondern ist vielschichtig in das soziale Netz der Gesellschaft verflochten. Sie schafft öffentlichen Mehrwert, der es den Arbeiter*innen ermöglicht, Teil am gesellschaftlichen Leben zu haben, indem sie einerseits durch gute Arbeitsbedingungen Zeit für gesellschaftliches Engagement oder Care-Arbeit haben, und andererseits die Produktion durch ihre Mitbestimmung an gemeinwohldienlichen Zwecken orientieren können. Zudem ist die Fabrik bereits ein Ort der Versammlungen, der Bildung und der Organisierung gesellschaftlicher Gruppen und Anliegen.

Die genossenschaftliche Organisierung der Fabrik erfüllt auch aus Sicht des Fabrikkollektivs noch nicht den höchsten Anspruch einer vergesellschafteten Produktion. Wie soll das auch gelingen in einem Meer der kapitalistischen Produktionsweise? Dennoch bietet die Genossenschaft eine Möglichkeit, sowohl die Produktion demokratisch zu organisieren als auch darüber hinaus mit der öffentlichen, sozial-integrierten Fabrik einen Ort der weiterführenden Organisierung zu bilden.

Kämpfe verbinden – über ein geteiltes Interesse an guter Arbeit

Convergere per insorgere e insorgere per convergere – unter diesem Motto versuchen die Arbeiter:innen des Fabrikkollektivs verschiedene soziale Bewegungen und Organisationen zusammenzuführen (convergere), um ihre Kämpfe als einen gemeinsamen Kampf zusammen zu führen und sich zu „erheben“ (insorgere). Das Fabrikkollektiv verbindet durch die enge Verknüpfung der Arbeitsfrage mit gesellschaftlichen Konfliktfeldern insbesondere der sozialen Frage und der Klimakrise, aber auch dem Feminismus und der Friedensfrage seinen Arbeitskampf mit den Kämpfen anderer Gruppen (Gaßen 2025, S. 433f.).

Wir können also nicht […] denken, dass wir in einer zerstörten Welt, die durch Krieg und Umweltverschmutzung zerstört ist, eine schöne Fabrik bauen werden. […] So wie es wichtig war, gegen die Mechanismen zu kämpfen, die zur Schließung dieser Fabrik geführt haben, ist es wichtig, gegen die Mechanismen zu kämpfen, die Krieg verursachen. Oder die Umweltverschmutzung verursachen. Wenn man dann ein bisschen mehr analysiert, stellt man fest, dass die Mechanismen dieselben sind […] Es ist also wichtig, die Dinge zusammen zu denken“ (Beschäftigter2_cdf).

Siamo tutti GKN – Wir sind Alle GKN. Der Industrieplan für die Produktion von Solarpaneelen und Batterien wurde in Kooperation mit solidarischen Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen ausgearbeitet. Labournet.tv, Jacobin und viele weitere linke journalistische Plattformen verbreiten die frohe Botschaft einer linken Alternative in Arbeiter*innen-Hand, Gramsci erwacht in Comics wieder zum Leben und schließt sich dem Arbeitskampf an. Kulturschaffende, Verlage, Gewerkschaftler*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen – sie alle setzen ihre Fähigkeiten ein, um an der Realisierung der öffentlichen, sozial-integrierten Fabrik mitzuwirken – und verwandeln damit bereits den stillgelegten Produktionsort in diese „Fabrik der Träume“ (La fabbrica dei sogni, Valentina Baronti). Wer schon einmal dort gewesen ist, hat vermutlich schnell gemerkt, dass man ebenso Teil von diesem Traum wird, wie man ins Träumen kommt.

Mutualismo als Weg zur Vergesellschaftung?

Als den Arbeiter*innen die Gehälter illegitimer Weise nicht mehr ausgezahlt wurden, gründeten sie im November 2022 einen Arbeiterhilfeverein (S.O.M.S. insorgiamo) nach dem tradierten Vorbild des Mutualismo – dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, das bis zur Arbeiter*innenbewegung in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Sie wollen „dem subtilen, unsichtbaren Mechanismus, den das Kapital gegen sie anwendet“ (Beschäftigter1_cdf) ihre wechselseitige Solidarität entgegensetzen. Denn wenn sie sich im Kampf für ein langfristiges Ziel wie der Reindustrialisierung und der Sicherung ihrer Arbeitsplätze nicht um die naheliegenden Probleme der Mitstreiter*innen kümmerten, verlören sie diese, wodurch auch ihr eigener Kampf geschwächt würde:

Und so hat die Tatsache, dass wir im Grunde für Arbeitsplätze, für Reindustrialisierung gekämpft haben, aber dann jeder mit seinen eigenen Problemen nach Hause gegangen ist, persönliche Differenzen, Spannungen, Widersprüche und so weiter geschaffen und vor allem dazu geführt, dass mehr Arbeiter den Kampf aufgegeben haben […] Wenn die Kampfgemeinschaft nicht in der Lage ist, mit diesen Problemen umzugehen, […] verliert man Teile des Kampfes. Wenn man Teile des Kampfes verloren hat, ist man schwächer“ (Beschäftigter1_cdf, Pos. 37).

Der Mutualismus wird vom Fabrikkollektiv bewusst als Strategie für seinen Arbeitskampf eingesetzt. Dabei versteht es die gegenseitige Hilfe als eine zwangsläufige Reaktion auf die Realität: Der Mutualismus ermögliche in diesen unvorhersehbaren Zeiten das Überleben, ohne darüber die politische Agenda zu vernachlässigen (Salvetti 2023, min. 17ff.). So bleiben die Probleme der Mitstreiter*innen keine Privatsache, sondern werden gemeinsam bearbeitet z. B. in Veranstaltungen zu Arbeit und psychischer Gesundheit, Care-Arbeit oder in der praktischen Organisierung von Hilfe bei Flutkatastrophen und vielem mehr. Die Arbeiter*innen und ihre Mitstreiter*innen etablieren mit ihrer solidarischen Praxis einen gegenhegemonialen Entwurf zur neoliberalen Beziehungsweise, die auf Eigenverantwortung und Konkurrenz setzt.

Unterstütze den Kampf: https://insorgiamo.org/200×10-000/


Einige Zitate in diesem Artikel stammen aus Interviews, die ich im Oktober 2023 mit Genossen aus dem Fabrikkollektiv geführt habe. In diesem Artikel fokussiere ich mich auf die Dimension der Vergesellschaftung. In dem Artikel „Die Konversionsstrategie des Collettivo di Fabbrica ex-GKN. Vom Abwehrkampf in die Progressivität – ein gegenhegemoniales Projekt?“ gehe ich vertiefter auf Herausforderungen, die Rolle der Kultur und die Strategie des Fabrikkollektivs ein.


 

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