Von der Fabbrica Pubblica zur Vergesellschaftung?
Nov. 17, 2025

Im zweiten Teil dieses Gastbeitrags geht Eva Gaßen auf die aktuelle politische Situation ein.

Eine regionale Entwicklungsgesellschaft als Meilenstein zur Reindustrialisierung und Vergesellschaftung

Am 15.04.2024 beauftragten die Abgeordneten des Stadtrats von Florenz auf Antrag der Liste Sinistra Progetto Commune die Stadtspitze damit, sich bei der Landesregierung der Toskana für die Erarbeitung eines Gesetzes einzusetzen, das die Realisierung der sozial-integrierten Fabrik des Fabrikkollektivs ermöglichen sollte (Bundu und Palagi 2024). Das Fabrikkollektiv hatte einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorbereitet, der auf die Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz insbesondere der von Deindustrialisierung betroffenen Automobilwirtschaft und des Metallgewerbes der Verbundregion Piana di Firenze-Prato-Pistoia abzielt (Il consiglio regionale 2024). Große Teile des Entwurfs wurden von Abgeordneten der Parteien Partito Democratico und Movimento Cinque Stelle in ihren Gesetzesvorschlag übernommen, der im Dezember 2024 erfolgreich verabschiedet wurde.

Dieses Landesgesetz ermöglicht die Gründung regionaler Entwicklungsgesellschaften – sogenannter Konsortien, die in Industriegebieten der gesamten Region infrastrukturelle Requalifizierungsmaßnahmen durchführen und so die Voraussetzungen für neue Produktionsansiedlungen schaffen sollen. Darunter fällt sowohl die Konversion bestehender Unternehmen als auch die Wiederherstellung und der Ausbau stillgelegter Industriegebiete und Gebäude. Diese Gesellschaften sollen sich aus öffentlichen Akteuren wie Landeskörperschaften, Kommunen und Institutionen zusammensetzen (Fortini 2025).

Das Gesetz sieht sogar explizit vor, dass unter definierten Umständen, wie etwa der Zustimmung der zuständigen Gemeinde, ungenutzte Industriefläche enteignet werden dürfen. Der Prozess der Enteignung, der bereits mit gesetzlichen Regeln aus den Jahren 2001/2005 in Kombination mit den Bestimmungen der italienischen Verfassung möglich wäre, wurde bisher auf kommunaler Ebene noch nicht angewendet (Fortini 2025).

Ziel des Gesetzes ist es, die wirtschaftliche Entwicklung u. a. durch die Förderung von Genossenschaftsgründungen zu unterstützen, um das Beschäftigungsniveau zu sichern und Anreize für die Arbeitnehmer*innen von Unternehmen in Krisensituationen zu schaffen (Fortini 2025). Im Falle von Industriekrisen wird die Übergabe des Unternehmens oder der Unternehmenszweige an die Arbeitnehmer*innen oder an von ihnen gegründete Genossenschaften erleichtert, um die Kontinuität des Unternehmens zu fördern (Fortini 2025).

Am 28. Juli 2025 haben die Gemeinden Campi Bisenzio (8 % der Anteile), Sesto Fiorentino (8 %) und Calenzano (4 %), die Metropolitanstadt Florenz (10 %) und die Regierung der Toskana (70 %) das Konsortium zur Förderung der industriellen Entwicklung des Gebiets Piana Fiorentina gegründet. Die Region sah für die operative Arbeit des Konsortiums für die nächsten drei Jahre je 315.000 € Budget vor. Diese werde von den teilnehmenden Kommunen je nach Größe der Anteile übernommen. Am 04.08.2025 wurde der Unternehmer Andrea Puccetti zum Präsidenten gewählt und damit beauftragt, sich der Reindustrialisierung des ex-GKN-Geländes anzunehmen (Ciardi 2025). Zunächst sollen die vorhandenen Industriepläne evaluiert werden, um anschließend das weitere Vorgehen mit allen Akteuren – insbesondere den ex-GKN-Arbeiter*innen – abzusprechen (Nistri 2025). Das Konsortium könnte zeitnah die ersten Schritte einleiten, um eine Reindustrialisierung durch die GFF-Genossenschaft zu ermöglichen, wobei deren Industrieplan in der initialen Phase von ca. 100 Arbeitsplätzen ausgeht. Daher wird darüber hinaus die Ausgestaltung eines industriellen „WG-Konzeptes“ für das Fabrikgelände in Erwägung gezogen (055Firenze 2025).

Grundsätzlich wurde mit diesem Gesetz eine wichtige Möglichkeit geschaffen, produzierendes Gewerbe entgegen der unternehmerischen Rationalität kapitalgetriebener Investmentfonds und Co in der Region zu halten und zu transformieren – und zwar auf demokratischerer Basis als zuvor. Die Gründung des Konsortiums ist nun jedoch auch ein Rennen gegen die Zeit. Denn die neue Eigentümerfirma Tuscany Industry srl (Ti) e Sviluppo Immobiliare Toscana srl (Sit) hat die Räumung der besetzten Fabrik bereits beantragt und diese droht, bevor das Fabrikkollektiv ein workers buy-out durchsetzen kann. Noch ist das Konsortium nicht vollständig operational aufgestellt.

Zudem gibt es weitere Herausforderungen für die Übernahme der Fabrik. Zwar hat die Genossenschaft GFF bereits ein beträchtliches Startkapital durch die Banca Etica und Crowdfunding sowie Genossenschaftsanteile gesammelt, jedoch gibt es einen weiteren Hauptinvestor – ein ethischer Finanzfonds – der nach wiederholter Vertagung seiner Zusage die Finanzierung letztendlich abgesagt hat. Ihm fehle öffentliches Engagement und weitergehende Untersuchungen. Nach Einschätzung der Genossen sind dies fadenscheinige Gründe. Vielmehr vermuten sie ein politisches Interesse, das Vorbildprojekt einer gemeinnützigen produzierenden Genossenschaft zu verhindern.

Das Fabrikkollektiv tut das, was es immer tut. Es organisiert sich, geht auf die Straße und ruft all seine Verbündeten zur Unterstützung auf. So sind auch alle gefragt, die finanziell unterstützen wollen. Denn um die Finanzierungssicherheit zu demonstrieren und weiteren Druck auf die politische Unterstützung aufzubauen, intensivieren sie ihr Crowdfunding. Mit einem Anteil kann man Mitglied der Genossenschaft GFF werden. Alle Informationen findet man dazu auf der Homepage: https://insorgiamo.org/200×10-000/.

Gegen die Materialität und Ideologie des Eigentums

Per questo – per altro – per tutto. Für dies, für Weiteres, für Alles. Mit diesem Motto macht das Fabrikkollektiv die Tragweite seines Arbeitskampfes deutlich. Das Besondere ist, dass die weitreichende systemische Perspektive in einem konkreten Konfliktfeld beheimatet und ganz materiell greifbar ist. Man kann den Staub von den Maschinen wischen, die seit dem 9. Juli 2021 stillstehen. Man kann sich auf dem Fabrikgelände versammeln und das Feuer in den Augen der Anderen sehen, das sich aus Wut und Hoffnung speist. Man kann der grauen Fassade der privatisierten Fabrik einen neuen Anstrich geben und die Tore für all die Mitstreiter*innen öffnen, die aus dem Arbeitskampf eine gemeinsame Angelegenheit machen.

Der Vision einer öffentlichen, sozial-integrierten Fabrik wurde von allen Beteiligten eine Materialität verliehen, die den ideologischen Überbau der Vergesellschaftung mit den materiellen Bedingungen der Produktion verbindet. Es ist im Kern das private Eigentum an den Produktionsmitteln, das das Fabrikkollektiv infrage stellt. Zum einen macht es deutlich, dass das privatunternehmerische Interesse an Profitmaximierung wie im Falle des Investmentfonds Melrose mit dem Motto „buy, improve, sell“ einer produktiven Entwicklung der Gesellschaft entgegensteht. Und zum anderen ermächtigt es sich und seine Mitstreiter*innen, selbst eine Alternative für eine gerechtere Wirtschaftsweise zu entwickeln.

Das Fabrikkollektiv nimmt selbstbewusst die Gegnerschaft zum privatisierten Eigentum auf und zieht die Kultur als Werkzeug für seinen Arbeitskampf heran. Es erzählt seine Geschichte als Theaterstück „Das Kapital – Ein Buch, das wir nie gelesen haben“, organisiert Arbeiterklassen-Literaturfestivals und Konzerte, schreibt ein kollektives Tagebuch, kommuniziert in sprachlichen und gezeichneten Bildern und vieles mehr. All diese kulturellen Elemente dienen der Kollektivierung des Arbeits- und Klassenkampfes, „denn die Fähigkeit zu erzählen, sich die Kunst des Erzählens, der Darstellung anzueignen, ist ein grundlegendes Element der Emanzipation unserer Klasse. Und Kampf ist im Grunde Emanzipation“ (Facebook Collettivo Di Fabbrica, 15.09.2023, eigene Übersetzung). Das Fabrikkollektiv vergleicht sich manchmal mit dem letzten Gallischen Dorf bei Asterix und Obelix, das sich der Kolonisierung des römischen Imperialismus verweigert. Sie haben einen Zaubertrank, den sie anreichern mit Marx, Gramsci, Arbeiter*innen-Literatur und -Geschichte. Und diesen Zaubertrank teilen sie bereitwillig mit allen, mit denen sie diesen Kampf teilen.

Demokratisierung und Vergesellschaftung gehen Hand in Hand

Ebenso wie die hierarchische Unternehmensführung auf das private Eigentum angewiesen ist, um ihr Profitinteresse gegen das Gemeinwohl durchzusetzen, ist die Vergesellschaftung der Fabrik auf Demokratisierung angewiesen. Das Fabrikkollektiv zeigt auf, wie eine am Gemeinwohl orientierte Produktion aussehen kann und wie man eine solche verwirklichen kann: über Mitsprache, über die Involvierung der Öffentlichkeit, über die gemeinsame Qualifizierung und Sorgearbeit, über Rechtsprechung und Rechtschreibung, mit viel Kultur, über ein geteiltes Interesse an guter Arbeit und über die Verbindung von sozialen Kämpfen und Bewegungen. Ihre demokratische Praxis führt zur Vergesellschaftung der Produktionsweise (Genossenschaft), des Arbeitskampfes (Bündnisarbeit, Verallgemeinerung des Interesses an guter Arbeit), der persönlichen Herausforderungen (Mutualismo) und der Ideen und Lösungen (Arbeiterklassen-Literatur, Industrieplan). Mit all diesen Elementen wird die Fabrik zu einem Ort, an dem die Gesellschaft für sich selbst produziert. Dafür spielt es eine erhebliche Rolle, inwieweit wir alle bereit sind, auch uns selbst – unsere Zeit, unsere Gedanken und unser Tun – zu vergesellschaften. Siamo tutti GKN.

Nur wenn man das Gefühl hat, eine Zukunft zu haben, die es zu erobern gilt, ist man bereit, ein Stück seiner Gegenwart zu opfern und dem Kampf zu spenden, sei es durch die Teilnahme an einer Besetzung, einem Streik oder einfach einer Versammlung“ (Facebook Collettivo di Fabbrica – Lavoratori Gkn Firenze: 05.02.2024, eigene Übersetzung).


Praktische Hinweise

Telegram-Info-Channel der deutschen Supportgruppe: https://t.me/c/2099084617/1

Instagram: @insorgiamo.de

Link zum Crowdfunding und Mitgliedsantrag zur Genossenschaft GFF: https://insorgiamo.org/200×10-000/ – [deutsche Seite folgt ggfs. noch]

Verweise

Bundu, Antonella; Palagi, Dimitrji (2024): Risoluzione. Oggetto: una legge per una fabbrica socialmente integrata – ex GKN. insorgiamo.org. Online verfügbar unter https://insorgiamo.org/wp-content/uploads/2024/04/per-una-fabbrica-socialmente-integrata.pdf.

Ciardi, Lisa (2025): Ex Gkn, Puccetti eletto presidente del Consorzio. In: LA NAZIONE, 05.08.2025. Online verfügbar unter https://www.lanazione.it/firenze/cronaca/ex-gkn-puccetti-eletto-682a7640.

Collettivo Di Fabbrica (2024): Collettivo Di Fabbrica – Lavoratori Gkn Firenze. Facebook. Florenz. Online verfügbar unter https://www.facebook.com/coordinamentogknfirenze/

Fortini, Walter (2025): Avviato l’iter per la costituzione del nuovo consorzio di sviluppo industriale della Piana. In: ToscanaNotizie, 08.03.2025. Online verfügbar unter https://www.toscana-notizie.it/-/avviato-l-iter-per-la-costituzione-del-nuovo-consorzio-di-sviluppo-industriale-della-piana.

Il consiglio regionale (2024): Proposta di legge regionale recante. Costituzione e funzionamento dei Consorzi di sviluppo industriale finalizzati alla realizzazione di poli di eccellenza nel settore della mobilità alternativa e delle rinnovabili. Strumenti per il sostegno al recupero cooperativistico d’impresa e del tessuto economico e sociale del territorio. insorgiamo.org. Online verfügbar unter https://insorgiamo.org/wp-content/uploads/2024/05/Proposta-di-legge-regionale-versione-Insorgiamo-con-note-e-sommario-14-mag-24.pdf.

LABOURNET.TV (2023): Das Fabrikkollektiv EX-GKN in Berlin. Online verfügbar unter https://de.labournet.tv/das-fabrikkollektiv-ex-gkn-berlin.

Nistri, Sandra (2025): Il rilancio dell’ex Gkn: „Tornerà area industriale. Si parte dal lavoro fatto“. In: LA NAZIONE, 07.08.2025.

Weiterführende Informationen:

Literatur im Zeichen des Klassenkampfs: https://www.sozonline.de/2025/05/literatur-im-zeichen-des-klassenkampfs/

Gaßen, Eva (2025): Die Konversionsstrategie des Collettivo di Fabbrica ex-GKN. Vom Ab-wehrkampf in die Progressivität – ein gegenhegemoniales Projekt? In: Peter Bartelheimer und Silke Ötsch (Hg.): Konversion – Wirtschaftsdemokratie für den sozialökologischen Umbau. 1. Auflage. Weimar (Lahn): Metropolis (Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 36), S. 419–449. https://www.metropolis-verlag.de/dl/OpenAccess/1586.pdf

Giorgio De Girolamo (28.09.2025): Vier Jahre Kampf für demokratische Konversion in der Toskana, JAKOBIN. https://jacobin.de/artikel/gkn-florenz-fabrikbesetzung-transformation-italien-arbeitskampf-fridays-future

In meiner Masterarbeit „Demokratische Konversion – Die Macht, über die Produktionsverhältnisse zu verfügen“ vergleiche ich die Konversionsbemühungen des Fabrikkollektivs mit den Bremer Konversionsereignissen von 1980 bis ca.1995. Bei Interesse kann ich sie gerne schicken. Kontakt über communia.

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