Vergesellschaftung im Grundgesetz – Teil 1
Jan. 16, 2025

Georg Freiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit Fragen der Vergesellschaftung, Wirtschaftsverfassung und Ökologie. Er ist am Energieprojekt von communia in beratender Funktion beteiligt.

Artikel 15 im Grundgesetz sieht die Möglichkeit von Vergesellschaftung vor, auf die sich Initiativen wie Deutsche Wohnen & Co enteignen, RWE & Co enteignen und andere berufen. Was bedeutet diese Möglichkeit?

Georg Freiß: Anders als vielfach angenommen, wird die „soziale Marktwirtschaft“ im Grundgesetz nicht erwähnt. Das Grundgesetz beinhaltet keine Wirtschaftsverfassung und ermöglicht somit eine demokratische Neuordnung der Wirtschafts- und Eigentumsordnung. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Kontext von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“.

Das Grundgesetz […] enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung. Anders als die Weimarer Reichsverfassung (Art. 151 ff.) normiert es auch nicht konkrete verfassungsrechtliche Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens. Es überläßt dessen Ordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat“ – Mitbestimmungsurteil (1979) (BVerfGE 50, 290 [337f.])

Ein Kernbestandteil dieses wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraumes ist Artikel 15 des Grundgesetzes, der die Überführung von Grund und Boden, Produktionsmitteln und Naturschätzen in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zum Zwecke der Vergesellschaftung vorsieht.

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“ – Artikel 15 Grundgesetz

Vereinfacht ausgedrückt ist die Vergesellschaftung das wirtschaftspolitische Gegenstück der Privatisierung, bei der öffentliches Eigentum in Privateigentum überführt wird. Teilweise wird die Vergesellschaftung aus diesem Grund auch als „Entprivatisierung“ bezeichnet.

Auf Grundlage von Artikel 15 will die Vergesellschaftungsbewegung volkswirtschaftlich zentrale Eigentumspositionen wie den Wohnungsraum, die Stromnetze und die Energieproduktion vergesellschaften und so öffentliches Eigentum begründen. Die Gemeinwirtschaft zeichnet sich durch zwei zentrale Bedingungen aus: zum einen die Verwendung des Eigentumsobjektes durch die Allgemeinheit (also eine Demokratisierung nach innen) und zum anderen die Verwendung für die Allgemeinheit (also die Gemeinwohlorientierung nach außen). In diesem Punkt unterscheidet sich die Vergesellschaftung von der Verstaatlichung: Bei einer Verstaatlichung wird zwar auch öffentliches Eigentum begründet, dieses kann jedoch weiterhin profitorientiert und marktkonform verwendet werden, während die Vergesellschaftung eine gemeinwohlorientierte Bewirtschaftung zwingend vorschreibt. So ist beispielsweise die Uniper SE ein verstaatlichtes Unternehmen und somit im öffentlichen Eigentum, sie operiert jedoch weiterhin erwerbswirtschaftlich und marktorientiert und ist deshalb kein Unternehmen der Gemeinwirtschaft.

Dass eine so weitreichende Umgestaltung der Wirtschaft möglich, ja in der Verfassung sogar vorgesehen ist, verwundert viele Menschen. Wie kam es dazu, dass sich dieser radikale Artikel in unserem Grundgesetz findet?

Georg Freiß: In den Nachkriegsjahren war die deutsche Wirtschaft am Boden, und Fragen der wirtschaftspolitischen Neuordnung standen auf der politischen Tagesordnung. Die Großindustrie mit ihren Kapitalinteressen wurde zugleich als ein maßgeblicher Unterstützer des Nationalsozialismus und als Gefährdung für Demokratie und Frieden angesehen. Aus diesem Grund gab es einen breiten Sozialisierungskonsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die SPD verstand sich als sozialistische Arbeiter*innenpartei und betonte ihre Sozialisierungsforderungen mehrfach, aber auch in der CDU gab es einen starken Flügel, der sich für einen christlichen Sozialismus einsetzte. Im Ahlener Programm der CDU-NRW von 1947 lesen wir:

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. […] Inhalt und Ziel [der] sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. […] Kohle ist das entscheidende Produkt der gesamten deutschen Volkswirtschaft. Wir fordern die Vergesellschaftung der Bergwerke.“

Viele Landesverfassungen sind ein paar Jahre älter als das Grundgesetz und zeugen von dem Geist dieser Zeit. Artikel 160 der Bayerischen Verfassung, Artikel 27 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen oder Artikel 61 der Verfassung von Rheinland-Pfalz adressieren die Möglichkeit einer Vergesellschaftung. Artikel 41 der Landesverfassung von Hessen geht sogar so weit, die Vergesellschaftung nicht nur abstrakt zu ermöglichen, sondern sie unmittelbar auf Verfassungsebene anzuordnen. Ein Konflikt in der Rot-Schwarzen Regierung und die Intervention der US-amerikanischen Militärregierung verhinderten jedoch umfangreiche Sozialisierungen.

Mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard kam in der CDU der wirtschaftspolitische Umschwung. Die katholische Soziallehre, die bis dahin wirtschaftspolitisch den christlichen Sozialismus begründete, wurde in die Idee der sozialen Marktwirtschaft inkorporiert. Als dann 1948 der Parlamentarische Rat zusammenkam, um das Grundgesetz zu schaffen, trafen die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen aufeinander. Die Unionsparteien, gemeinsam mit FDP, DZP und DP, verfolgten marktwirtschaftliche Vorstellungen, während die SPD und KPD gemeinwirtschaftliche Vorstellungen mittels Vergesellschaftung umsetzen wollten. Aufgrund dieser politischen Pattsituation schloss man den sogenannten „Bonner Kompromiss“, wonach das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral konzipiert wurde und die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Eigentumsordnung dem Gesetzgeber und damit dem demokratischen Diskurs in die Hände gelegt wurde. Vielfach wird davon ausgegangen, dass die SPD dem Grundgesetz ohne den Artikel 15 wohl nicht zugestimmt hätte. Hierfür spricht auch die Aussage von Walter Menzel (SPD) im Plenum am 8. Mai 1949, in welcher er den Kompromisscharakter des Grundgesetzes und den Stellenwert der Vergesellschaftung für die Sozialdemokraten betont:

[In Art. 15 GG] sehen wir einen politischen Fortschritt, der mit dazu beigetragen hat, manche Bedenken gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes auszuräumen. Seit Jahrzehnten fordert die Sozialdemokratie die Sozialisierung. Sie wissen, daß diese Forderung ein wesentliches, vielleicht das entscheidende Ziel unseres politischen Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung ist.“ – Der Parlamentarische Rat, Band 9, S. 528 f.

Da sich sowohl CDU als auch SPD gute Chancen ausrechneten, bei der ersten Bundestagswahl 1949 zu triumphieren, konnten beide Parteien mit dem Kompromiss gut leben. Letztlich entschied die CDU diese Bundestagswahl für sich und begann mit der Umsetzung ihrer Wirtschaftspolitik. Die Durchsetzung der „Sozialen Marktwirtschaft“ muss an dieser Stelle wohl nicht dargestellt werden. Die SPD bekannte sich 1959 mit dem Godesberger Programm zur „Sozialen Marktwirtschaft“ und die Gewerkschaften folgten 1996 mit dem Dresdner Grundsatzprogramm. Diese wirtschaftspolitischen Neuausrichtungen der zentralen Kräfte hinter Artikel 15 ändern jedoch nichts an der verfassungsrechtlichen Konzeption der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes.

Im zweiten Teil dieses Interviews, das in zwei Wochen erscheint, stellt Georg Freiß die wichtigsten Streitfragen um die juristische Auslegung von Artikel 15 dar.

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