Georg Freiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit Fragen der Vergesellschaftung, Wirtschaftsverfassung und Ökologie. Er ist am Energieprojekt von communia in beratender Funktion beteiligt. Im ersten Teil ging es um die Entstehungsgeschichte des Vergesellschaftungsartikels, im zweiten um die wichtigsten juristischen Streitpunkte in der Auslegung des Artikels.
Initiativen wie DWE oder RWE & Co enteignen tragen die Forderung nach Enteignung in ihrem Namen, fordern aber eine Vergesellschaftung. Wo liegen die Unterschiede zwischen Enteignung und Vergesellschaftung?
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der staatliche Entzug von Eigentum mit einer Enteignung gleichgesetzt. Tatsächlich kann der Staat aber auf drei Wegen Eigentum entziehen. Durch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung (Artikel 14 Absatz 1 Grundgesetz), durch eine Enteignung (Artikel 14 Absatz 3 Grundgesetz) oder durch eine Vergesellschaftung (Artikel 15 Grundgesetz). Die Abgrenzung von Artikel 14 Absatz 1 und Absatz 3 hat das Bundesverfassungsgericht schon oft beschäftigt und die juristische Literatur hierzu kann eine ganze Bibliothek füllen. Mit der Abgrenzung von Vergesellschaftung und Enteignung hat sich die Rechtswissenschaft im Vergleich sehr wenig beschäftigt.
Wie wir im letzten Teil unseres Interviews gelernt haben, wurde die Vergesellschaftung bewusst in einem eigenständigen Artikel der Verfassung geregelt und nicht als „Artikel 14 Absatz 4“ hinter die Enteignung gestellt. Hiermit wollte der Verfassungsgeber klarstellen, dass die Vergesellschaftung kein Unterfall der Enteignung ist, sondern einen eigenständigen Charakter hat.
Zur Erinnerung:
„Die systematische Stellung des Art. 15 ist von dem Gedanken getragen, daß die Überführung in Gemeineigentum, also roh ausgedrückt Sozialisierung oder ähnliche Maßnahmen —, nicht als Sonderfall der Individualenteignung zu gelten hat, sondern als etwas anderes, nämlich als strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung.“ (Carlo Schmid am 7.10.1948 im Grundsatzausschuss, Der Parlamentarische Rat, Band 5, S. 213 f.)
Wenn man eine Vergesellschaftung als „Enteignung“ bezeichnet, dann schmälert man meiner Meinung nach entweder die Bedeutung der Vergesellschaftung oder überhöht die Bedeutung der Enteignung.
Die Enteignung ist nicht zwingend eine wirtschaftspolitische Maßnahme. Laut der Rechtsprechung bedeutet Enteignung den vollständigen oder teilweisen Entzug von Eigentum zur Erfüllung konkreter öffentlicher Aufgaben. Klassischerweise handelt es sich hierbei um die Verwirklichung großer Bauvorhaben, wie Autobahnen, Stromtrassen, Universitäten, Krankenhäusern, etc. Laut Artikel 14 Absatz 3 ist die Enteignung ausschließlich „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig
Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. (Artikel 14 Absatz 3 Grundgesetz)
Bei einer Enteignung muss deshalb konkret nachgewiesen werden, dass der Eigentumsentzug dem Allgemeinwohl dient. Insgesamt findet eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit einerseits und den Eigentümer*inneninteresen andererseits statt. Nur wenn diese Abwägung zugunsten der Allgemeinheit ausgeht, ist die Enteignung zulässig. Zusätzlich ist die Enteignung die „Ultima Ratio“. Der Staat muss also der Überzeugung sein, dass es keinen anderen Weg als eine Enteignung gibt, um die öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Vereinfacht kann man sagen, dass bei der Enteignung das Privateigentum in seinem Bestand und seiner Legitimität voll geachtet wird, und der Staat nur im Ausnahmefall enteignen darf. Daraus erklärt sich auch, dass die Entschädigungszahlungen bei einer Enteignung in der Regel hoch ausfallen, auch wenn das im Grundgesetz nicht zwingend so festgeschrieben ist. Oft versucht der Staat, bevor eine Enteignung notwendig wird, an die Eigentümer*innen mit attraktiven Kaufangeboten heranzutreten, um das Risiko jahrelanger Prozesse zu minimieren, welches droht, wenn das Eigentum durch Enteignung zwangsweise entzogen wird. Solche Prozesse können die Umsetzbarkeit öffentlicher Bauvorhaben erheblich gefährden oder zumindest hinauszögern.
Die Enteignung trifft auch keinerlei Aussage über die Verwendung des Eigentums. Der Staat kann auch zu Gunsten von großen Wirtschaftsakteuren enteignen, die mit dem enteigneten Eigentum privatwirtschaftliche Gewinne einfahren. Die Enteignungen von Häusern und Grundstücken in Lützerath erfolgten zum Beispiel zugunsten von RWE und des Braunkohleabbaus. Das Eigentum an Grund und Boden in Lützerath wurde also zum Zwecke einer öffentlichen Aufgabe (Braunkohleverstromung und Energieversorgung) entzogen und an RWE übertragen. Ob die Braunkohleverstromung in Hinblick auf die Klimakrise dem Allgemeinwohl dient, kann durchaus bezweifelt werden, ist aber vom politischen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt, der sich auf die Energiesicherheit und Sicherung von Arbeitsplätzen im Braunkohlerevier beruft.
Die Vergesellschaftung auf der anderen Seite ist nicht auf die Verwirklichung konkreter Vorhaben gerichtet, sie ist ein Selbstzweck und kann vom Gesetzgeber jederzeit umgesetzt werden. Die Vergesellschaftung macht die Eigentumsverhältnisse politisch und unterwirft sie demokratischen Prozessen. Aus diesem Grund muss sich der Gesetzgeber für eine Vergesellschaftung auch nicht vor der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung rechtfertigen. Privatisierungen einerseits und Vergesellschaftung andererseits stehen weitestgehend im freien Ermessen des Gesetzgebers und unterliegen somit nur dem demokratischen Meinungsbildungsprozess. Sie ist deshalb keinesfalls „ultima ratio“.
Auch wenn es mit Blick auf Wohnungsmärkte, Energieversorgung, Lebenshaltungskosten und Klimawandel nicht an krisenhaften Umständen mangelt, braucht es keine Krise für die Vergesellschaftung. Krisen sind oft politische Voraussetzungen von Vergesellschaftung, aber keinesfalls verfassungsrechtliche. Gerade weil das Privateigentum an Sozialisierungsobjekten aufgehoben werden soll und in der Privatwirtschaft enorme preisbildende Einflüsse hat, ist die Vergesellschaftung auch nicht verpflichtet, sich am Marktwert der Eigentumsobjekte zu orientieren. Wie Carlo Schmid klargestellt hat, handelt es sich bei der Vergesellschaftung nicht um einen Sonderfall der Individualenteignung, sondern um den eigenständigen Zweck der strukturellen Umwandlung der Wirtschaftsordnung.
Wenn Initiativen der Vergesellschaftungsbewegung also von „Enteignung“ sprechen, so ist dies eine politische Entscheidung, um die Kommunikation ihres Anliegens zu erleichtern. Wesentlich mehr Menschen können mit dem Begriff der Enteignung etwas anfangen als mit dem Begriff der Vergesellschaftung. Außerdem wird der politische Gegner (z.B. „enteignet Vonovia!“) stärker ins Zentrum gerückt und ermöglicht so die Mobilisierung derjenigen, die unter den gegebenen Verhältnissen und der Macht dieser Konzerne leiden. Verfassungsrechtlich sind beide Begriffe aber strikt zu trennen.
Zusammenfassend gesagt: Die Enteignung existiert innerhalb der bestehenden Eigentumsordnung und wird vorgenommen, wenn das Eigentum von der Allgemeinheit dringender gebraucht wird als vom Eigentümer. Sie darf nur vorgenommen werden, wenn kein anderes Mittel zur Zielerreichung in Betracht kommt. Die Entschädigung richtet sich meist nach dem Marktwert.
Die Vergesellschaftung steht im freien Ermessen des demokratischen Gesetzgebers und will die bestehende Eigentumsordnung strukturell verändern. Sie kann unabhängig von Dringlichkeit und milderen Mitteln umgesetzt werden. Sie ist ebenso wie die Enteignung entschädigungspflichtig, wobei die Entschädigung geringer als der Marktwert ausfallen kann.